Immer mehr Behandlungen, teurere Medikamente, explodierende Krankenkassenprämien: Gegen die steigenden Kosten im Gesundheitswesen scheint kein Kraut gewachsen. Im Ringen um taugliche Rezepte betreibt das Parlament derweil Pflästerlipolitik. So hat der Ständerat vergangene Woche mit seinem Gegenvorschlag der SP-Prämien-Entlastungs-Initiative die Zähne gezogen. Gleich erging es der Kostenbremse-Initiative der Mitte. Wie dieser gordische Knoten zerschlagen werden soll, gehört zu den grössten Rätseln in Bundesbern.
Einen Schritt weiter ist man im Berner Jura, im Spital Moutier. Dort will die Gruppe Swiss Medical Network im nächsten Jahr den Beweis antreten, dass ein effizientes, qualitativ hochstehendes und günstigeres Gesundheitssystem möglich ist. Dafür schliessen sich die Leistungserbringer in der Region Jurabogen zu einem Netzwerk zusammen, dem Réseau de l’Arc. Medizinische Grundversorgung, Spitalleistungen oder Altenpflege sollen ab dem 1. Januar 2024 aus einer Hand erbracht werden, koordiniert von einer Organisation. «Das ändert alles», sagt Alexandre Omont (44), der Direktor des Réseau de l’Arc.
Das heutige System kranke an Fehlanreizen, sagt Omont. So würden etwa Untersuchungen aus finanziellen Gründen im Spital wiederholt, die eine Hausärztin zuvor bereits durchgeführt hat. Der Informationsfluss zwischen den Leistungserbringern stocke, weil verschiedene Systeme im Einsatz seien und mancherorts sogar noch Faxgeräte zur Datenübermittlung verwendet würden. Im Zentrum steht oftmals nicht der Patient – sondern der Profit.
Prävention statt Reaktion
Ein wichtiger Pfeiler im neuen System bildet die Prävention. «Wer gesund ist, kostet nichts», sagt Direktor Alexandre Omont. Eine Erhebung im Jurabogen hat unlängst ergeben, dass bloss 40 Prozent der Frauen, bei denen ein Test zur Früherkennung von Brustkrebs angezeigt war, effektiv ein Screening durchführen liessen. Im Réseau de l’Arc werden dafür geschulte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Mitglieder eng begleiten und sie im Bedarfsfall über wichtige anstehende Untersuchungen telefonisch informieren.
Mit an Bord beim Réseau de l’Arc sind auch der Kanton Bern und die Krankenkasse Visana. Deren neue Versicherung trägt den Titel «Viva» und wird derzeit vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) unter die Lupe genommen. Das Produkt wird funktionieren wie eine Grundversicherung in einem alternativen Modell. Das heisst: Wer sich für die integrierte Versorgung entscheidet, tut das für ein Jahr. Wenn jemand danach mit dem Service nicht zufrieden ist, wechselt er einfach wie bis anhin die Anbieterin. Preismässig soll das Versicherungsmodell mit den günstigsten fünf Angeboten mithalten können.
Einer, der vom neuen Ansatz bereits überzeugt ist, ist Alain Kenfak (41), Arzt am Spital Moutier und medizinischer Direktor des Netzwerks. Er sagt: «Heute kennen wir die Patientinnen und Patienten nicht. Sind sie gesund, haben wir keinen Zugang zu ihnen.» Das erschwere die Prävention. Im Réseau de l’Arc bekämen die Mitglieder nicht einfach ein vergünstigtes Abonnement für ein Fitnesscenter. Da man die Leute besser kenne, könne man individuelle Präventionsprogramme empfehlen. Wer schlechte Essgewohnheiten hat, wird zu einem Coaching in der Klinik eingeladen. Für Rauchentwöhnungskuren stehen vor Ort Expertinnen und Experten zur Verfügung.
Wenn sich eine Organisation um Termine, Koordination und Begleitung kümmert, bleibt den Ärztinnen und Ärzten mehr Zeit für ihre Behandlungen. Heute würden administrative Aufgaben 40 Prozent der Arbeitszeit in Anspruch nehmen, sagt Kenfak. «Es macht doch viel mehr Sinn, das an Leute zu delegieren, die sich damit bestens auskennen.»
Ausgerechnet die USA
Inspiration für das Réseau de l’Arc holte sich Antoine Hubert (56), der Verwaltungsratsdelegierte von Swiss Medical Network, ausgerechnet in einem Land, das nicht gerade berühmt ist für ein funktionierendes Gesundheitssystem: den USA. Kaiser Permanente zeigt dort seit Jahrzehnten, dass sich integrierte Versorgung für Patientinnen und Leistungserbringer lohnt. Die Organisation hat 12,6 Millionen Mitglieder, denen 39 Spitäler zur Verfügung stehen. Im Schnitt verzeichnet das Unternehmen jährlich 150'000 Spitalaufenthalte. Zum Vergleich: Den 8,7 Millionen Menschen in der Schweiz stehen 276 Spitäler zur Verfügung, und jedes Jahr werden knapp 1,4 Millionen Spitalaufenthalte registriert – also fast das Zehnfache. Untersuchungen haben gezeigt: Wer in den USA bei Kaiser Permanente versichert ist, lebt im Schnitt sechs Jahre länger als der Rest der Bevölkerung. Hubert: «Es liegt in unserer Verantwortung als Leistungserbringer und Versicherer, eine Alternative zum gegenwärtigen System zu finden, das dem Untergang geweiht ist.»
Dass integrierte Versorgung Lösungen bieten kann im Kampf gegen steigende Gesundheitskosten, hat auch der Bund erkannt. In seinem Kostendämpfungspaket 2, das die parlamentarischen Gesundheitskommissionen derzeit beraten, ist ein Netzwerk zur koordinierten Versorgung als neuer Leistungserbringer explizit vorgesehen. In seiner Botschaft vom September 2022 schreibt der Bundesrat: «In einem Netzwerk zur koordinierten Versorgung schliessen sich Gesundheitsfachpersonen unterschiedlicher Berufe unter ärztlicher Leitung zusammen, um eine den Patientenbedürfnissen entsprechende medizinische Betreuung aus einer Hand anzubieten.»
Diesen Plänen widersetzt sich eine breite Allianz von Gesundheitsfachpersonen. In einem Leitartikel in der «Schweizerischen Ärztezeitung» schrieb FMH-Präsidentin Yvonne Gilli (66): «Dieses Konstrukt wird nicht funktionieren. Dieses Pferd ist tot und fürs Reiten untauglich.» Es bleibe unklar, weshalb Versicherte, die alternative Versicherungsmodelle meiden, ausgerechnet diesen neuen Leistungserbringer aufsuchen sollten, der nicht einmal Prämienrabatte bringe. Die Kritik beziehe sich nicht auf Initiativen wie das Réseau de l’Arc, bekräftigt Gilli gegenüber SonntagsBlick. «Wir sind im Gegenteil offen für solche Modelle.» Die FMH wehre sich aber gegen eine «Mikroregulierung» des Bundes. Das Beispiel Jura zeige ja: Integrierte Versorgungsmodelle entwickelten sich auch ohne neue Gesetze. «Wenn die Regierung zu starre Strukturen vorgibt, ist keine Innovation mehr möglich.»
Skeptische Politikerinnen
Was das Réseau de l’Arc betrifft, gibt Gilli zu Bedenken, dass es eine Illusion sei zu glauben, man könne ein US-System auf hiesige Verhältnisse überstülpen, die historisch und kulturell geprägt seien. Unser Land sei klein, die unterschiedlichen Regionen benötigten Systeme, die ihren Besonderheiten Rechnung tragen würden, so die Ärztin und ehemalige Grünen-Nationalrätin.
Keinen Bedarf für mehr staatliche Regelung sieht Gesundheitspolitikerin Martina Bircher (39). Die SVP-Nationalrätin sagt: «Die Realität hat Gesundheitsminister Alain Berset eingeholt.» Dies zeigten Modelle wie das Réseau de l’Arc exemplarisch. Mit neuen Regelungen werde dem System die Luft entzogen, sich zu entwickeln. «Die Pläne des Bundes sind vielleicht gut gemeint, schaden aber am Ende mehr, als dass sie nützen.»
Im Jura ist man überzeugt, dass sich die Pionierarbeit lohnt – und sich gesamtschweizerisch durchsetzen wird. Antoine Hubert: «Voll integrierte Systeme bringen eine bessere Versorgungsqualität und mehr Effizienz – und sind dadurch günstiger.»