Das Schweizer Gesundheitswesen ist ein Patient, dessen Fieberkurve steil nach oben zeigt. Nachdem die Krankenkassenprämien auf das aktuelle Jahr um 6,6 Prozent gestiegen sind, droht im Herbst bereits der nächste Schock: Erste Zahlen deuten auf eine Zunahme um 7,5 Prozent hin. Im SonntagsBlick warnte Santésuisse-Direktorin Verena Nold (60) vergangene Woche: «Wenn wir nichts unternehmen, fahren wir das Gesundheitssystem an die Wand.»
Die düstere Prognose versetzt auch Gesundheitsminister Alain Berset (51) in Alarmstimmung. In einem halben Jahr muss er die neuen Prämien verkünden. Ein markanter Anstieg würde sein ohnehin schon schwieriges Präsidialjahr endgültig ruinieren.
«Erhöhung wäre für System nicht tragbar»
Spitäler, die unter steigenden Kosten ächzen, kommen dem SP-Bundesrat deshalb denkbar ungelegen. Als die Insel Gruppe Ende März die Schliessung zweier Berner Spitäler bekannt geben musste, sagte Verwaltungsratspräsident Bernhard Pulver (57): «Werden die Tarife für unsere medizinischen Leistungen nicht angepasst, sind künftig weitere einschneidende Angebotsanpassungen unumgänglich.»
Schon im letzten Oktober forderte der Spitalverband H+ Politik und Versicherer auf, sämtliche Tarife um rund fünf Prozent zu erhöhen. Unter anderem dieser Hilferuf dürfte Alain Berset nun veranlasst haben, Stellung zu den geforderten Tariferhöhungen zu nehmen. In einem Schreiben an die Kantonsregierungen, das SonntagsBlick vorliegt, heisst es: «Eine solche Erhöhung wäre für das System finanziell nicht tragbar.
Kantone sollen Löcher stopfen
In seinem Brief macht der Bundesrat deutlich, dass Massnahmen, die zu einem Prämienanstieg führen, für ihn nicht infrage kommen: «Die Eindämmung des Kostenanstiegs zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung bleibt für den Bundesrat ein prioritäres Ziel.» Das Krankenversicherungsgesetz sehe Tariferhöhungen ausserhalb von Tarifverhandlungen oder gar einen automatischen Teuerungsausgleich nicht vor. Es liege in der Verantwortung der Tarifpartner, für sachgerechte Tarife und deren Aktualisierung zu sorgen.
Was im Schreiben nicht steht, aber in jeder Zeile mitschwingt: Das Stopfen der Löcher in den Kassen der Leistungserbringer soll Sache der Kantone sein – oder auch: der Steuerzahlenden.
Bei den Empfängern sorgt der Brief aus Bundesbern für Irritationen. Die Kantone seien sich sehr wohl ihrer Verantwortung bewusst, die ihnen bei der Genehmigung und Festsetzung der Tarife zukomme, sagt Tobias Bär, Sprecher der kantonalen Konferenz der Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK).
Inflation macht Spitälern zu schaffen
Scharfe Kritik an Berset übt die Hirslanden-Gruppe. Die Tarife seien viel zu niedrig und müssten schnellstmöglich erhöht werden, sagt Sprecher Claude Kaufmann. Spitäler seien auf Millionen von Steuergeldern angewiesen, um zu überleben. «Alain Berset nimmt mit seiner Prämienpolitik bewusst die Belastung der Kantone und der Steuerzahlenden in Kauf.» Die Kantone seien näher bei der Bevölkerung und dem Gesundheitspersonal als das BAG, so Kaufmann. «Sie wissen, dass ohne Ausgleich der Teuerung die hochwertige Gesundheitsversorgung gefährdet ist.»
Im Krankenversicherungsgesetz steht: «Der Tarifvertrag bedarf der Genehmigung durch die zuständige Kantonsregierung oder, wenn er in der ganzen Schweiz gelten soll, durch den Bundesrat.» Und weiter: Kommt zwischen Leistungserbringern und Versicherern kein Tarifvertrag zustande, so setzt die Kantonsregierung nach Anhören der Beteiligten den Tarif fest.
Anne Bütikofer (50), die Direktorin des Spitalverbands, sagt zu SonntagsBlick: «Wir sind erstaunt, dass sich der Bund in die kantonale Hoheit einmischt.» Die Inflation mache den Spitälern, die gerade aus einer Pandemie kommen würden, zu schaffen. Sie seien in allen Bereichen stark unterfinanziert und hätten mit einem grossen Fachkräftemangel zu kämpfen.
Krankenversicherer wollen keine Tariferhöhung
«Wir verstehen nicht, dass der Bundesrat die Brisanz der Versorgungssicherheit für die schweizerische Bevölkerung offensichtlich noch nicht in seiner Gesamtheit wahrnimmt und sie auf eine Kostendiskussion reduziert.»
Bersets Innendepartement verteidigt das Vorgehen. Man spreche sich nicht grundsätzlich gegen Tariferhöhungen aus, sagt BAG-Sprecherin Katrin Holenstein. Die Tarife müssten sich gemäss Krankenversicherungsgesetz an den ausgewiesenen Kosten einer effizienten Leistungserbringung orientieren. «Damit allfällige Tariferhöhungen genehmigungsfähig sind, müssen transparente Berechnungsgrundlagen vorliegen.»
Morgen wollen Spitalverband und Kantone bei einem gemeinsamen Austausch über das weitere Vorgehen beraten. Für sie steht ausser Frage, dass etwas geschehen muss. GDK-Sprecher Bär: «Das System der Spitalfinanzierung und die Tarifverhandlungen sind nicht darauf ausgelegt, auf unerwartete, massive Veränderungen bei den Kosten zu reagieren.»
Bei den Krankenversicherern kommen die Forderungen nach einer Tariferhöhung nicht gut an. Beide Verbände sind sich für einmal einig.
Santésuisse-Sprecher Matthias Müller sagt, «dass viele Spitäler in den letzten Jahren Gewinne schreiben konnten». Man stehe flächendeckenden Tariferhöhungen grundsätzlich kritisch gegenüber. Klar ist für die Kassen aber auch, dass die Teuerung sowie sämtliche anderen relevanten Kostenfaktoren in den kommenden Tarifverhandlungen berücksichtigt werden müssen. Die gleichen Argumente führt Curafutura ins Feld. Deren Sprecher, Adrien Kay, sagt: «Eine flächendeckende Preiserhöhung würde 1:1 zu einer entsprechenden Prämienerhöhung führen. Dies wäre für die Prämienzahler nicht tragbar.»