Auf einen Blick
- Schweiz schliesst EU-Verhandlungen ab. Neue bilaterale Verträge auf dem Tisch
- Die Schweiz soll ab 2030 jährlich 350 Millionen Franken Kohäsionsbeitrag bezahlen.
- 200 Sitzungen und Tausende Stunden Verhandlungen für neue Abkommen
Fertig verhandelt! Jetzt wird erstmal abgerechnet: Die Schweiz hat die Verhandlungen mit der Europäischen Union abgeschlossen. In rund 200 Sitzungen feilschten die Unterhändler von Aussenminister Ignazio Cassis (63, FDP) – die Gespräche dauerten Tausende Stunden.
Die Grundzüge der neuen bilateralen Verträge liegen auf dem Tisch. Cassis hat sie zusammen mit seinen Bundesratskollegen Guy Parmelin (65, SVP) und Beat Jans (60, SP) vorgestellt. Zuvor sprach Bundespräsidentin Viola Amherd (62, Mitte) bei einem Treffen mit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (66) von einem «Meilenstein».
Doch das politische Ringen verlagert sich nun ins Inland. Noch ist es ein weiter Weg, bis das Paket – allenfalls in mehrere Einzelteile zerlegt – dem Volk vorgelegt werden kann. Blick zeigt, was die Schweiz in Brüssel erreicht hat und vergibt je nach Verhandlungserfolg 1 (nichts erreicht) bis 5 Sterne (das Optimum herausgeholt).
Das liebe Geld
Was kostet der Zugang zum europäischen Binnenmarkt mit 450 Millionen Konsumenten? Die Schweiz wird künftig regelmässig sogenannte Kohäsionsbeiträge zahlen, die Entwicklungsprojekte in ärmeren EU-Staaten unterstützen. In einer Übergangsphase soll die Schweiz zwischen 2025 und 2029 jährlich einen Kohäsionsbeitrag von 130 Millionen Franken leisten. Für den Zeitraum 2030 bis 2036 haben der Bundesrat und die EU einen jährlichen Betrag von 350 Millionen Franken vereinbart.
Blick-Check: Die Schweiz bekommt den Zugang zum EU-Binnenmarkt nicht zum Discountpreis. Aber wie jeder Gemüsehändler auf dem «Märit», muss auch die Schweiz eine Art Standgebühr für den EU-Markt bezahlen. Das Nicht-EU-Land Norwegen bezahlt mit 390 Millionen ähnlich viel. *** (3 von 5 Sternen)
Schutzklausel für Zuwanderung
Bei der Zuwanderung soll die bisherige Schutzklausel, die bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen ausgelöst wird, neu konzipiert werden. Unter welchen Bedingungen sie aktiviert werden soll, will die Schweiz im Ausländergesetz festlegen. Wird sie ausgerufen, entscheiden der sogenannte Gemischte Ausschuss oder allenfalls ein Schiedsgericht, ob die Schutzmassnahmen gerechtfertigt sind oder nicht. Ist Letzteres der Fall und die Schweiz setzt trotzdem Massnahmen um, kann die EU Strafmassnahmen ergreifen. Im Gegenzug übernimmt die Schweiz teils die Unionsbürgerrichtlinie, aber mit wichtigen Ausnahmeregelungen, etwa beim Landesverweis. Zudem muss die Schweiz die heute höheren Studiengebühren für Ausländer jenen für Einheimische angleichen.
Blick-Check: Die Schutzklausel bleibt vorerst schwammig. Wie gut sie wirkt, hängt davon ab, welche konkreten Aktivierungskriterien und Schutzmassnahmen der Bundesrat festlegen wird. Bei der Unionsbürgerrichtlinie konnte die Schweiz einiges entschärfen. ** (2 von 5 Sternen)
Zoff um Streitbeilegung
Was, wenn es Zoff gibt? Die Streitbeilegung zwischen der Schweiz und der EU soll über einen eigenen Mechanismus erfolgen. Unstimmigkeiten werden zunächst im Gemischten Ausschuss behandelt, bei Bedarf entscheidet ein Schiedsgericht. Liegt ein Streit über die Auslegung von EU-Recht vor, soll der Europäische Gerichtshof entscheiden. Kritiker finden: Dies sei eine unzulässige Bevorzugung der EU, da dies ein «Gericht der Gegenseite» sei.
Blick-Check: Es ist so gekommen, wie man es erwartet hat. Der Bundesrat hat viel erreicht, die Lösung für die Schweiz ist fair. **** (4 von 5 Sternen)
Dynamische Rechtsübernahme
Sie ist ein heisses Eisen. Dynamische Rechtsübernahme bedeutet, dass die Schweiz im Bereich der Bilateralen Verträge neues EU-Recht übernimmt. Dies geschieht nicht automatisch, sondern nach einem politischen Prozess – vom Parlament bis hin zu Volksabstimmungen. Allerdings: Will die Schweiz eine Regelung nicht übernehmen, drohen Strafmassnahmen der EU.
Blick-Check: Die Wundertüte. Die Schweiz kann natürlich immer noch Nein sagen, wenn sie bereit ist, die Folgen zu tragen. Doch die Schweiz ist in einem Korsett. Zugutehalten kann man aber, dass es nur ganz bestimmte Bereiche betrifft. *** (3 von 5 Sternen)
Lohnschutz
Beim Lohnschutz gibt es keine grossen Überraschungen. Die Kautionspflicht für ausländische Unternehmen wird eingeschränkt, die Voranmeldefrist für Risikobranchen von acht auf vier Tage verkürzt. Zudem muss die Schweiz die umstrittene EU-Spesenregelung übernehmen, wonach nur die im Herkunftsland geltenden – meist deutlich tieferen – Spesen übernommen werden müssen. Die Regelung könnte dazu führen, dass beispielsweise polnische Maler, die in der Schweiz arbeiten und hier Zmittag essen, nur die Spesen ihres Heimatlandes vergütet bekommen. Eine Non-Regression-Klausel soll dafür sorgen, dass das Schweizer Lohnschutzniveau gegen allfällige EU-Rückschritte künftig abgesichert ist.
Blick-Check: Der Lohnschutz erfährt tendenziell eine Verschlechterung. Wie schwerwiegend diese ausfällt, hängt vor allem davon ab, wie die EU-Spesenregelung national umgesetzt wird. Der Bundesrat will hier seinen Spielraum «maximal nutzen». Die Non-Regression-Klausel hingegen ist ein positiver Punkt. ** (2 von 5 Sternen)
Neues Stromabkommen
Der Strommarkt wird liberalisiert. Wer will, kann seinen Anbieter frei wählen und so möglicherweise sparen – oder im Falle einer Stromkrise deutlich mehr bezahlen. Die Haushalte können aber in der Grundversorgung bleiben und so gesicherte Preise haben. Das Abkommen wollte die Schweiz, um die Versorgungssicherheit zu sichern. Dabei geht es insbesondere um das Stromnetz, das stark mit jenem der EU verbunden ist.
Blick-Check: Eine vollständige Liberalisierung wäre nach den Verwerfungen auf dem Energiemarkt zu Beginn des Ukraine-Kriegs chancenlos. Nun haben die Kunden die Wahl. *** (3 von 5 Sternen)
Bahn- und Luftverkehr
Künftig dürfen auch ausländische Bahnen wie Flixtrain auf Schweizer Schienen fahren. Das Schweizer ÖV-System werde nicht negativ beeinträchtigt, heisst es. Beim Flugverkehr dürfen Schweizer Airlines künftig auch Inlandflüge innerhalb von EU-Staaten anbieten.
Blick-Check: Das Schweizer Schienennetz ist schon heute stark ausgelastet. Der legendäre Taktfahrplan bleibt gesichert. In der Praxis dürften es Liberalisierungen schwer haben. **** (4 von 5 Sternen)
Weitere Abkommen
Neue Abkommen gibt es auch in den Bereichen Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. So wolle man «gemeinsame Massnahmen treffen, um die Bevölkerung bei schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren zu schützen».
Blick-Check: Die Abkommen sind harmlos und werden kaum zu reden geben. **** (4 von 5 Sternen)
So geht es weiter
Für das Abkommen mit der EU müssten rund 150 Gesetze und Verordnungen geändert werden. Die SVP und europakritische Organisationen sind grundsätzlich gegen neue bilaterale Verträge, die Gewerkschaften fordern viele Zugeständnisse.
Der Bundesrat hat in Brüssel einiges erreicht, doch formell unterschrieben ist noch nichts. Im Inland stehen nun schwierige Gespräche über die innenpolitischen Massnahmen an. Eine Vernehmlassungsvorlage soll aber noch vor der Sommerpause 2025 vorliegen.
Anfang 2026 will der Bundesrat das Paket dem Parlament unterbreiten. Eine Volksabstimmung vor den Wahlen 2027 gilt als unwahrscheinlich. Die Botschaft ans Parlament wird dick: Die Rede ist von bis zu 1500 Seiten.