Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard wettert über den EU-Deal – und rechnet ab
«Der Bundesrat hat in Brüssel unseren Lohnschutz geopfert!»

Pierre-Yves Maillard geht in die Offensive: Der neue EU-Deal ist für den Gewerkschaftschef inakzeptabel. Der Bundesrat müsse den Vertragstext jetzt dem Volk zugänglich machen. Ohne Nachbesserungen droht ein Nein der Gewerkschaften – und das Ende des Deals.
Publiziert: 01:04 Uhr
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Aktualisiert: 17:34 Uhr
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«Den Lohnschutz nicht opfern»: Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard will im EU-Poker aufs Ganze gehen.
Foto: Keystone

Auf einen Blick

  • Pierre-Yves Maillard vom Gewerkschaftsbund kritisiert den EU-Deal des Bundesrats scharf
  • Maillard sieht Verschlechterungen in gleich vier Bereichen des Lohnschutzes
  • Bundesrat muss Vertragstext jetzt veröffentlichen, fordert er
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.

Der Bundesrat hat den Verhandlungsmarathon mit der EU hinter sich gebracht und dem neuen Deal zugestimmt. In trockenen Tüchern ist er aber nicht, denn nun steht die innenpolitische Debatte an. Eine entscheidende Rolle im EU-Poker kommt den Gewerkschaften zu. Sagen sie Nein zum Vertrag, hat er auch vor dem Volk keine Chance.

Wie hoch will Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard (56, SP) pokern? Im Blick-Interview verrät er, was es braucht, um ihn vom Abkommen zu überzeugen. Klar ist: Die Hürde ist hoch. Maillard zeigt sich nach der Weihnachtsruhe angriffslustig.

Blick: Herr Maillard, wie haben Sie die Weihnachtstage verbracht?
Pierre-Yves Maillard: Wie jedes Jahr gemütlich mit meiner Familie. An Heiligabend haben wir meine Mutter besucht. Während Jahren gab es Fondue chinoise, diesmal haben meine beiden Schwestern und ich etwas zum Essen beigesteuert. Wir waren für Lachs, Fruchtsalat und Wein zuständig. An Weihnachten haben wir mit meinem Schwiegervater im Luzernischen gefeiert.

Der Bundesrat hat Ihnen das EU-Päckli unter den Christbaum gelegt. Wie sehr freuen Sie sich über dieses Geschenk?
Ich würde das Geschenk gern umtauschen. Das jetzige Resultat ist inakzeptabel. Der Bundesrat hat unseren Lohnschutz geopfert! Wir können doch nicht ein Paket vors Volk bringen, das den Schutz der Schweizer Löhne opfert.

«Herr Maillard muss nicht enttäuscht sein», hält Bundespräsidentin Viola Amherd im Blick dagegen. Das Lohnschutzniveau bleibe erhalten.
Das habe ich gelesen. Ebenso, dass sie die Non-Regression-Klausel (Anm. d. Red.: Sollten künftige Anpassungen des EU-Entsenderechts das schweizerische Schutzniveau für entsandte Arbeitnehmende in der Schweiz verschlechtern, ist die Schweiz nicht verpflichtet, diese Anpassungen zu übernehmen.) als gutes Resultat des Bundesrats erwähnt. Aber wissen Sie, wie das wirklich abgelaufen ist?

Erzählen Sie es uns.
Diese Non-Regression-Klausel haben wir in einer zweistündigen Sitzung der Sozialpartner mit EU-Kommissar Maros Sefcovic herausgeholt. Das war vor eineinhalb Jahren. Wir haben ihm klargemacht, dass eine dynamische Rechtsübernahme im Lohnschutzbereich inakzeptabel ist. Weil wir nicht wissen, ob der Lohnschutz auf EU-Ebene künftig geschwächt wird. Am Schluss hat Herr Sefcovic diese Klausel auf den Tisch gebracht. Die sogenannte wichtigste Verbesserung im Lohnschutz haben also die Sozialpartner erreicht – nicht der Bundesrat.

Sie erhalten eine Lohnschutz-Garantie und sind trotzdem nicht zufrieden?
Ja, weil eben nicht das heutige Lohnniveau gesichert wird, sondern das neu verhandelte – und das bedeutet in vier Bereichen eine massive Verschlechterung gegenüber heute. Die Voranmeldefrist wird von acht auf vier Tage verkürzt. Die Kautionspflicht als wirksames, präventives Instrument wird praktisch abgeschafft. Ebenso die Dienstleistungssperre für Firmen, die gegen das Entsendegesetz verstossen. Der schlimmste Punkt ist aber die EU-Spesenregelung, die wir übernehmen müssen. 

Der oberste Gewerkschaftschef

Pierre-Yves Maillard (56) ist seit Mai 2019 Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. Vor seiner Wahl in dieses Amt war der Sozialdemokrat während 15 Jahren Regierungsrat des Kantons Waadt. Seit 2023 amtet er auch als Ständerat. Zuvor sass er ab 2019 wieder für die SP im Nationalrat – wie schon von 1999 bis 2004. Maillard ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Renens VD.

Pierre-Yves Maillard (56) ist seit Mai 2019 Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. Vor seiner Wahl in dieses Amt war der Sozialdemokrat während 15 Jahren Regierungsrat des Kantons Waadt. Seit 2023 amtet er auch als Ständerat. Zuvor sass er ab 2019 wieder für die SP im Nationalrat – wie schon von 1999 bis 2004. Maillard ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Renens VD.

Damit würden entsandte Arbeitnehmende nur noch die – meist tieferen – Spesen des Herkunftslands bezahlt bekommen. Der Bundesrat tönt an, dass er diese Regelung wie andere EU-Länder einfach nicht umsetzen würde. Problem gelöst.
Eben nicht! Selbst wenn wir gesetzlich regeln, dass einheimische Spesenansätze für alle gelten, bleibt das Risiko, dass diese Regelung juristisch angefochten wird, weil der EU-Vertrag über unserem Gesetz steht. Das Bundesgericht könnte die EU-Regel anwenden – mit schweren Folgen.

Konkret?
Entsandte Arbeitskräfte wären billiger als unsere eigenen, weil sie weniger Spesen bekommen. Das würde auch den Druck auf die heimischen Löhne erhöhen – und für das einheimische Gewerbe zum Problem werden. Damit steigt der Druck auf die Gesamtarbeitsverträge, die Spesenansätze nach unten anzupassen. Damit droht Hunderttausenden Arbeitnehmenden hierzulande eine Verschlechterung. Der Bundesrat hat es hier verpasst, der EU gegenüber Klartext zu sprechen. 

Seco-Chefin Helene Budliger Artieda hat den Auftrag, eine innenpolitische Lösung zu finden. Was fordern Sie?
Es muss sichergestellt werden, dass die Spesen nach dem Ortsprinzip bezahlt werden. Wenn es per Gesetz nicht reicht, muss das Parlament das EU-Abkommen entsprechend anpassen. Wir wollen eine Garantie. 

Wo sehen Sie weitere Möglichkeiten für Kompensationsmassnahmen?
Im Gegensatz zu den Arbeitgebern haben wir in den Gesprächen mit dem Bund viele Vorschläge gemacht. Zum Beispiel die erleichterte Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Gesamtarbeitsverträgen, eine stärkere Verantwortlichkeit der Auftraggeber bei Missbräuchen oder weniger Spielraum für Temporärarbeiten. 

Böse Zungen sagen, den Gewerkschaften gehe es nur darum, noch mehr Arbeitskontrollen machen zu können, weil sie dabei Millionen verdienen.
Ach, dieser Vorwurf kommt immer wieder. Es gibt zwei Möglichkeiten: Man kontrolliert die Arbeitsbedingungen, oder man kontrolliert sie nicht, dann werden die Löhne sinken. Entweder übernimmt der Staat die Kontrollen oder eben paritätisch die Sozialpartner. Gratis macht das keiner. Auch die Kontrolleure der Arbeitgeber nicht.

Hinter verschlossenen Türen verhandeln die Sozialpartner seit Monaten über innenpolitische Massnahmen. Sie hätten es also in der Hand, hier Kompromisse zu schmieden.
So einfach ist das leider nicht. Die Arbeitgeber und die ihnen nahestehenden Bürgerlichen nutzen die Europa-Debatte, um an sich chancenlose Liberalisierungen voranzutreiben. Generell scheint die Lust auf neue EU-Verträge weder bei den Arbeitgebern noch bei FDP und Mitte besonders gross zu sein.

Sie könnten sich einen Ruck geben und mit FDP-Chef Thierry Burkart oder Mitte-Chef Gerhard Pfister eine tragfähige Lösung ausarbeiten.
Dazu sind wir gern bereit. Eines muss ich noch betonen: Unsere Forderungen sind moderat! Im EU-Vorzeigeland Luxemburg gibt es zwei nationale Mindestlöhne und automatische Lohnerhöhungen bei Inflation. So weit sind wir nie gegangen, auch wenn die Arbeitgeber das gern anders darstellen.

An allem sind die Arbeitgeber schuld?
Die Frage ist: Was hat sich in der Europa-Diskussion geändert? Die Antwort: Arbeitgeber und bürgerliche Parteien messen einer Einigung mit der EU weniger Bedeutung bei. Entweder sie bekommen dank der EU Liberalisierungen auf dem Arbeitsmarkt und beim Service public, oder sie nehmen ein Scheitern in Kauf. Nur sagen sie es nicht laut. Ausser den Gewerkschaften spricht niemand Klartext.

Immerhin gibt das Ihrer Meinung viel Gewicht.
Hinter verschlossenen Türen sagen viele, dass das neue EU-Abkommen ohnehin kaum Chancen hat. Das Spiel läuft so: Wer ist schuld? Selbst wenn wir das absolute Minimum verteidigen, sind wir für diese Rolle designiert. Das ist unaufrichtig. 

Sie sehen sich als Sündenbock?
Die gleichen Leute, die uns für das Scheitern des Rahmenabkommens kritisiert haben, sagen jetzt, das neue Resultat sei viel besser. Das zeigt, dass unsere Analysen so falsch nicht sein können. Aber was uns andere vorwerfen, ist mir eigentlich egal. Das letzte Wort wird bei uns die Basis haben. Sie ist unser Kompass. Sind der autonome Lohnschutz und der Schutz des Service public nicht gewährleistet, gibt es von uns ein Nein. 

Wenn man Ihnen zuhört, kann man sich schwer vorstellen, dass Sie noch umschwenken.
Wir können dem, was der Bundesrat bisher vorgelegt hat, nicht zustimmen. Aber nun zum Wichtigsten: Der Bundesrat muss Transparenz schaffen! Wir fordern den Bundesrat auf, den Vertragstext dem Volk zugänglich zu machen. Wir wollen die englische Originalversion jetzt lesen können. 

Pierre-Yves Maillard über ...

… die Schutzklausel

Die Schutzklausel soll es ermöglichen, bei schwerwiegenden Problemen mit der Zuwanderung Massnahmen zu ergreifen.

Maillard: «Mich erinnert das an ein Leiterlispiel: Es droht ein mühsames Hin und Her zwischen Bern und Brüssel – verbunden mit viel Unsicherheit. Die Schwächung des Lohnschutzes gibt den Firmen eine Möglichkeit, noch mehr auf günstige Arbeitskräfte zurückzugreifen. Dagegen bringt dieser unbrauchbare Mechanismus nichts. Die beste Schutzklausel bleibt der Lohnschutz, inklusive Kontrollen. Diese müssen gestärkt werden.»

… das Stromabkommen

Der Schweizer Strommarkt soll für Privathaushalte teilweise liberalisiert werden.

Maillard: «Den Konsumenten wird vorgegaukelt, dass sie mit einer Liberalisierung Geld sparen könnten. Der Strompreis geht zuerst vielleicht runter, aber im Konkurrenzkampf verzichten Anbieter auf Investitionen. Die Folge: Beim nächsten Engpass explodieren die Preise. Solche Experimente sind gefährlich.»

… den Service public

Künftig dürften auch ausländische Bahnen eigenständig auf Schweizer Schienen fahren. Die Schweiz konnte den Vorrang des Taktfahrplans und weitere Besonderheiten absichern.

Maillard: «Es wird der Schutz der Schweizer Arbeitsbedingungen versprochen, und Dumpingpreise sollen nicht möglich sein. Aber die Kooperationspflicht mit den SBB wird aufgehoben. Solange wir das Resultat nicht schwarz auf weiss haben, bleibe ich skeptisch.»

… die Schutzklausel

Die Schutzklausel soll es ermöglichen, bei schwerwiegenden Problemen mit der Zuwanderung Massnahmen zu ergreifen.

Maillard: «Mich erinnert das an ein Leiterlispiel: Es droht ein mühsames Hin und Her zwischen Bern und Brüssel – verbunden mit viel Unsicherheit. Die Schwächung des Lohnschutzes gibt den Firmen eine Möglichkeit, noch mehr auf günstige Arbeitskräfte zurückzugreifen. Dagegen bringt dieser unbrauchbare Mechanismus nichts. Die beste Schutzklausel bleibt der Lohnschutz, inklusive Kontrollen. Diese müssen gestärkt werden.»

… das Stromabkommen

Der Schweizer Strommarkt soll für Privathaushalte teilweise liberalisiert werden.

Maillard: «Den Konsumenten wird vorgegaukelt, dass sie mit einer Liberalisierung Geld sparen könnten. Der Strompreis geht zuerst vielleicht runter, aber im Konkurrenzkampf verzichten Anbieter auf Investitionen. Die Folge: Beim nächsten Engpass explodieren die Preise. Solche Experimente sind gefährlich.»

… den Service public

Künftig dürften auch ausländische Bahnen eigenständig auf Schweizer Schienen fahren. Die Schweiz konnte den Vorrang des Taktfahrplans und weitere Besonderheiten absichern.

Maillard: «Es wird der Schutz der Schweizer Arbeitsbedingungen versprochen, und Dumpingpreise sollen nicht möglich sein. Aber die Kooperationspflicht mit den SBB wird aufgehoben. Solange wir das Resultat nicht schwarz auf weiss haben, bleibe ich skeptisch.»

Der Bundesrat veröffentlichte zwölf Faktenblätter, in denen das Verhandlungsergebnis erklärt wird.
Das ist eine reine PR-Übung. Wir wollen keine Propaganda, wir wollen es schwarz auf weiss. Das müsste selbstverständlich sein. Sonst ist die Debatte überflüssig. 

Bleibt es bei Ihrem Kampf gegen den EU-Deal, müssten Sie mit SVP-Übervater Christoph Blocher zusammenspannen. Der linke Volkstribun Maillard hilft dem rechten Volkstribun Blocher – Schulter an Schulter?
Herr Blocher war für die Erhöhung des Rentenalters auf 67 und mehr, er steht nicht zum Lohnschutz. Da sind wir ganz anderer Meinung. Ausserdem sind die Liberalisierungen des Arbeitsmarkts, des Strommarkts und des Eisenbahnsektors, die in diesem Vertrag enthalten sind, eigentlich sein Wirtschaftsprogramm. Blochers Opposition ist institutionell begründet, unsere materiell. Wir werden nicht die gleiche Kampagne machen.

Sie helfen also nicht Blocher – Blocher hilft Ihnen.
Solche Fragen interessieren mich nicht. Die Gewerkschaften sind nicht nationalistisch. Sie verteidigen die Interessen der Arbeitnehmenden. Die Gewerkschaften haben die bilateralen Verträge immer unterstützt; unter der Bedingung, dass die Löhne und Arbeitsbedingungen geschützt werden. 

Sie sprechen nur über Lohnschutz. Sie sind aber nicht nur Gewerkschaftschef, sondern auch SP-Ständerat. Sie tragen Verantwortung für das grosse Ganze. Und unter dem Strich ist der neue EU-Deal doch gar nicht so schlecht.
Als Sozialdemokrat standen die Interessen der Arbeitnehmer für mich stets an erster Stelle. Und so ist es auch bei anderen in der SP. 

Sie ignorieren, dass es in Ihrer Partei auch EU-Freunde gibt.
Jeder in der SP versteht die Position der Gewerkschaften. Die Prioritäten sind vielleicht nicht immer die gleichen. Aber alle wollen den Lohnschutz sichern. Es ist möglich, dass die einen das Paket am Ende für ausreichend halten, die anderen nicht.

Der SP droht die Spaltung.
In allen Parteien gibt es zu solch komplexen Themen teils unterschiedliche Positionen, so funktioniert Politik.

Sie würden im Abstimmungskampf gegen die eigene Partei antreten?
Solche Fragen stelle ich mir heute nicht. In erster Linie hoffe ich, dass wir Gewerkschafter in der SP und in den anderen Parteien überzeugen können.

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