«Die Schweiz kann Schutzklausel eigenständig aktivieren»
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Justizminister Beat Jans:«Die Schweiz kann Schutzklausel eigenständig aktivieren»

EU-Deal – nun beginnt das politische Hickhack
Volk stimmt wohl über «Stabilisierungspaket» und die drei neuen Abkommen separat ab

Der EU-Deal ist aufgegleist – um den Abschluss der Verhandlungen zu feiern, reiste EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen extra nach Bern. Die Bundesräte Cassis, Parmelin und Jans erklären die Details – Gewerkschaften toben bereits.
Publiziert: 20.12.2024 um 10:58 Uhr
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Aktualisiert: 20.12.2024 um 18:27 Uhr
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Kurz nach 12. 30 Uhr landet Ursula von der Leyen in der Schweiz.
Foto: Kim Niederhauser
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Tobias BruggmannRedaktor Politik

Um kurz nach 12.30 Uhr landet der Jet von Kommissionschefin Ursula von der Leyen (66) in Bern-Belp. Die Landung bedeutet das Ende eines Verhandlungsmarathon. Die Schweiz und die EU haben einen Vertrag. Ein historisches Abkommen, sagt die deutsche EU-Chefin. Die Schweiz und die EU würden gemeinsame Werte teilen. «Wir teilen uns einen Kontinent, unser Europa» und sei durch Strassen und Schienen verbunden. «Wir sind uns so nah, wie man nur sein kann», sagte sie an einer Medienkonferenz zusammen mit Bundespräsidentin Viola Amherd (62) 

Nur wenig später erklärt dann eine Männerrunde um Aussenminister Ignazio Cassis (63), Justizminister Beat Jans (60) und Wirtschaftsminister Guy Parmelin (65) die Details. 

Die Spielregeln

Bei der Personenfreizügigkeit, beim Land- und Luftverkehr, der Landwirtschaft, der gegenseitigen Anerkennung von Produktrichtlinien, beim Strom und der Lebensmittelsicherheit gilt neu eine «dynamische Rechtsübernahme». Das bedeutet, die Schweiz übernimmt EU-Recht. Weiterhin kann aber das Volk oder das Parlament eine solche Übernahme ablehnen – nur drohen dann Strafen. Auch Ausnahmen sind möglich. Wenn es einen Streit gibt, entscheidet zuerst ein sogenannter Gemischter Ausschuss. Ist man sich dort nicht einig, gibt es ein Schiedsgericht. Dieses muss den EU-Gerichtshof beiziehen. Entscheiden wird das Schiedsgericht. Die Ausgleichsmassnahmen müssen verhältnismässig sein. Willkürliche Strafmassnahmen seien nicht mehr möglich. 

Die Zuwanderung

Bei der Zuwanderung wird die Unionsbürgerrichtlinie teilweise übernommen. EU-Bürger können in die Schweiz ziehen und hier arbeiten. Der Bund hat hier aber Ausnahmen erreicht. Landesverweisungen für Straftäter sind noch immer möglich. In der EU bekommt die Bürger nach fünf Jahren ein Aufenthaltsrecht. In der Schweiz gibt es das nur, wenn die Person auch einen Job hat. Wer länger als sechs Monate Sozialhilfe bezogen hat, muss zudem auch entsprechend länger warten. Wer so einmal ein Aufenthaltsrecht bekommen hat, und den Job verliert, muss sich um einen neuen bemühen und mit dem Arbeitsamt RAV zusammenarbeiten, sonst kann die Aufenthaltsgenehmigung entzogen werden. 

Die bisherige Schutzklausel wird konkretisiert. Sie kann bei «schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» aktiviert werden. Das kann die Schweiz einseitig machen. Dann entscheidet ein gemischter Ausschuss oder danach ein Schiedsgericht, ob die Schweiz Schutzmassnahmen ergreift. Die EU kann Ausgleichsmassnahmen bei der Zuwanderung ergreifen. Teil dieses Deals war, dass EU-Bürger an Schweizer Unis und Fachhochschulen künftig die gleichen Studiengebühren bezahlen. 

Lohnschutz

Die Schweiz führt das Entsenderecht der EU ein: Das bedeutet, dass EU-Firmen ihre Arbeiter in die Schweiz schicken können. Umgekehrt ist das auch möglich. Damit das Recht aber eingeführt wird, muss das «aktuelle Schutzniveau der Lohn- und Arbeitsbedingungen dauerhaft erhalten werden». Das soll durch ein dreistufiges Konzept erreicht werden. Es gelte das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort». Die Schweiz hat Ausnahmen verhandelt, wonach die Firmen ihre Bürger voranmelden müssen. Künftige Anpassungen, die das Schutzniveau verschlechtern, muss die Schweiz nicht übernehmen. Bei der Spesenregelung will die Schweiz «ihren zur Verfügung stehenden Spielraum maximal nutzen», ohne aber konkreter zu werden. Hierbei geht es darum, dass eine EU-Firma aus Polen ihre Arbeiter in die Schweiz schicken kann und dabei aber nur polnische Spesen ersetzen muss. 

Subventionen

Die Schweiz bezahlt gerne und viele Subventionen. Die EU will unerwünschte Wettbewerbsverfälschungen verhindern. Grundsätzlich gilt ein Verbot – aber mit zahlreichen Ausnahmen, die gemeldet werden müssen. Ein solches Überwachungssystem führt auch die Schweiz ein. Zudem beschränkt die Schweiz ihre Pflichten auf den Land- und den Luftverkehr sowie den Strom. Die Landwirtschaft kann also aufatmen. 

Verkehr

Künftig dürfen auch ausländische Bahnen wie Flixtrain auf Schweizer Schienen fahren. Dafür würden Rahmenbedingungen gelten, schreibt der Bund. Das Schweizer ÖV-System werde nicht negativ beeinträchtigt. Beim Flugverkehr dürfen Schweizer Airlines künftig auch Inlandflüge innerhalb von EU-Staaten anbieten. 

Die neuen Abkommen

Neue Verträge gibt es unter anderem beim Strom: Der Strommarkt wird liberalisiert. Wer will, kann seinen Anbieter frei wählen und so möglicherweise sparen – oder im Falle einer Stromkrise deutlich mehr bezahlen. Die Haushalte können aber in der Grundversorgung bleiben und so gesicherte Preise haben. Das Abkommen wollte die Schweiz, um die Versorgungssicherheit zu sichern. Dabei geht es insbesondere um das Stromnetz, das stark mit jenem der EU verbunden ist. 

Das Gesundheitsabkommen ist im Hintergrund der Corona-Pandemie entstanden. Die Schweiz will sich mit der EU bei der Prävention und der Kontrolle von Krankheiten zusammenarbeiten.

Bei der Lebensmittelsicherheit gibt es ebenfalls ein neues Abkommen. Das biete Vorteile für die Gesundheit von Pflanzen und Tieren sowie den Schutz der Konsumentinnen und Konsumenten, schreibt der Bund. 

Bildung

Die Schweiz darf wieder bei EU-Programmen wie dem Studenten-Austauschprogramm Erasmus oder dem Forschungsprogramm Horizon mitmachen. 

Die Kosten

Ein solcher Deal kostet: Die Schweiz überweist ab 2030 jährlich 350 Millionen Franken. Das Geld fliesst in Entwicklungsprojekte in EU-Ländern wie Bulgarien, Estland oder Kroatien. Für die Übergangsphase bis 2030 sind es jährlich 130 Millionen Franken. 

Hier kommt von der Leyen in Bern an
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Durchbruch bei EU-Deal:Hier kommt von der Leyen in Bern an

Vor den Medien lobte Cassis das Abkommen. Die Schweizer Delegation habe «die im Verhandlungsmandat festgelegten Ziele erreicht» 

Nun beginnt die juristische Feinarbeit. Der finale Text soll im Frühjahr 2025 vorliegen, dann beginnt die innenpolitische Debatte und danach wohl eine Volksabstimmung. Dabei dürfte die Schweiz über das sogenannte «Stabilisierungspaket» und die drei neuen Abkommen separat abstimmen. . Gleichzeitig beginnt die Arbeit in der Schweiz: an den Umsetzungsmassnahmen, aber auch den Gesprächen mit den Sozialpartnern. «Die Ergebnisse dieser Arbeiten werden dem Bundesrat vor dem Sommer vorgelegt.» Dann geht das ganze Paket in die Vernehmlassung. 

Parmelin diplomatisch, Jans mit Mühen

Der Auftritt des Europaausschuss des Bundesrates wurde mit Spannung erwartet. Schliesslich sitzt mit Guy Parmelin auch ein SVP-Vertreter drin, der das Abkommen wohl «contre coeur» vertreten musste. Er gab sich diplomatisch. Der Bundesrat habe die Aufgabe die Verhandlungen zu führen. «Dann wird im Gremium abgewogen, ob das Resultat in den politischen Prozess geschickt werden soll.»Die Parteien hätten eine andere Rolle zu spielen. «So funktioniert unsere Demokratie.» Während er auch häufig auch auf deutsch detailliert antwortete, hatte Justizminister Beat Jans einen schwierigeren Tag. 

Auch auf mehrmalige Nachfragen der Journalisten blieben seine Erklärungen zur detaillierten Ausgestaltung der Schutzklausel vage. Wann diese Klausel aktiviert werden könne, müsse nun der Gesetzgebungsprozess zeigen. «Dort können wir die Hürden und Massnahmen festlegen.» Man müsse nachweisen können, dass es ernsthafte Probleme seien. 

«Das könnte die EU dann auch machen.»

Präziser wurde dann seine Staatssekretärin für Migration, Christine Schraner Burgener (61). Die Schwellenwerte werde von Indikatoren definiert werden. Einer davon könne die Mietsituation sein, so Schraner Burgener. Die Ausgleichsmassnahmen aus der EU können die gleichen sein, wie die Schweiz ergreift. Wenn zum Beispiel die Arbeitslosigkeit stark steigt, könnte «zum Beispiel» die Schweiz die Neuzuwanderung in den betroffenen Branchen einschränken. «Das könnte die EU dann auch machen.» 

Noch während die Medienkonferenz lief, kamen bereits die ersten Reaktionen. Die bekannten Linien blieben. Die Gewerkschaften zeigten sich enttäuscht, die SVP lehnt einen Vertrag sowieso ab. Die Diskussion wird weitergehen. 

20.12.2024, 16:44 Uhr

Blick TV Sondersendung um 17.00 Uhr

Um 17.00 Uhr startet eine Sondersendung mit politischen Reaktionen. Folgende Personen treten auf

  • SVP-Nationalrat Alfred Heer
  • SP-Nationalrat Fabian Molina
  • Economiesuisse-Präsidentin Monika Rühl
  • Geschäftsführer der Kompass Initiative Philip Erzinger

20.12.2024, 16:42 Uhr

So geht es jetzt weiter

Nun beginnt die juristische Feinarbeit. Der finale Text soll im Frühjahr 2025 vorliegen, dann beginnt die innenpolitische Debatte – diese dürfte dauern. Danach folgt wohl eine Volksabstimmung. Dabei dürfte die Schweiz über das sogenannte «Stabilisierungspaket» und die drei neuen Abkommen separat abstimmen. 

20.12.2024, 16:41 Uhr

Wo ist die Schweiz hart geblieben?

Patric Franzen, der Schweizer Chefunterhändler, darf bei der letzten Frage auch noch antworten. Die Schweiz sei bei mehreren Punkten hart geblieben und habe zum Beispiel bei der Landwirtschaft viel herausgeholt. Dort gebe es keine dynamische Rechtsübernahme. Beim Strom gebe es Schweizer Ausnahmen. Auch die Bundesverfassung müsse nicht geändert werden. «Die Schweizer Kompetenzen des Parlaments, der Kantone und der Gerichte bleiben bestehen.» Auch beim Lohnschutz dürfe es keine Rechtsübernahmen geben, die diesen verschlechtern. «Aus unserer Sicht sind das positive Aspekte». 

Natürlich hätte man gerne mehr erreicht. «Aber der anderen Seite geht es ebenso.» 

Damit ist die Medienkonferenz beendet.

20.12.2024, 16:36 Uhr

EU-Gerichtshof muss nicht angerufen werden

Ein Journalist fragt, ob das Schiedsgericht auch an das Bundesgericht gebunden ist. Justizministerin Jans betont, dass das Schiedsgericht ein neues Element sei, dass es «bisher noch nicht gab». Es stehe nichts in den Verträgen, dass der EU-Gerichtshof angerufen werden müsse. Das gemeinsame Schiedsgericht angerufen werde. 

Die Auslösung der Schutzklausel sei eine Schweizer Sache, hier habe der EU-Gerichtshof nichts zu sagen, ergänzt Ignazio Cassis.

20.12.2024, 16:20 Uhr

Genügen die Mieten in Zürich für die Schutzklausel?

Kann wegen der Miet-Situation in Zürich die Schutzklausel aktiviert werden, fragt ein Journalist. Das sei nicht die Flughöhe auf der verhandelt werde, sagt Justizminister Jans. Man müsse nachweisen können, dass es ernsthafte Probleme seien. Die Schwellenwerte werde von Indikatoren definiert werden. Einer davon könne die Mietsituation sein, sagt, Migrations-Staatssekretärin Christine Schraner Burgener.

Die Ausgleichsmassnahmen aus der EU können die gleichen sein, wie die Schweiz ergreift. Wenn zum Beispiel die Arbeitslosigkeit stark steigt, könnte «zum Beispiel» die Schweiz die Neuzuwanderung in den betroffenen Branchen einschränken. «Das könnte die EU dann auch machen.» 

20.12.2024, 16:16 Uhr

Mitte-Pfister: «Wesentliche Verbesserungen erreicht»

Auch die Mitte sieht einen «klaren Fortschritt». «Im Vergleich zum Rahmenabkommen von 2018 hat der Bundesrat wesentliche Verbesserungen erreicht», so Mitte-Präsident Gerhard Pfister. Man werde nun prüfen, ob das Verhandlungsziel tatsächlich erreicht werde und sich später ausführlicher dazu äussern. 

20.12.2024, 16:13 Uhr

Was sind aussergewöhnliche Probleme?

Jans muss erneut erklären, was «aussergewöhnliche Probleme» sind, damit die Schutzklausel aktiviert werden kann. Der Justizminister verweist auf die Gesetzgebung. Man habe einen «Rahmen» geschaffen – eine interessante Formulierung, da der Bundesrat seit dem Abbruch der Verhandlungen vor einigen Jahren nicht mehr von einem Rahmenabkommen spricht. 

20.12.2024, 16:06 Uhr

Alt Nationalrat Köppel stellt Frage

Alt Nationalrat Roger Köppel (SVP) darf auch eine Frage stellen, er ist als Journalist der Weltwoche anwesend. Er sieht im neuen Deal «das gleiche» wie beim Rahmenabkommen. Zudem will er wissen, ob der Bundesrat abgestimmt habe. 

Cassis antwortet, der Bundesrat habe beim Rahmenabkommen «den Stecker gezogen». Der Bundesrat habe aber nie aufgehört nach Lösungen zu suchen. «Es ist kein Rahmen, es hat nichts mehr mit dem Rahmenabkommen zu tun.» Man mache so weiter wie bisher. Man habe «dossiert», je nach Sektor Lösungen gefunden. Zudem habe man den innenpolitischen Prozess geführt. «Der Unterschied ist fundamental.» Man sei stolz auf das Resultat.

Nun geht Cassis ins Detail. Er spricht zudem über den horizontalen Ansatz, der «so Angst gemacht hat». «Sie selbst haben geschrieben, da wäre das ganze EU-Recht drin.» Nun habe man drei neue Abkommen und bestehende aktualisiert. 

«Herr Köppel, sie waren lange im Parlament, sie wissen doch genau, dass der Bundesrat eine Kollegialitätsbehörde ist», antwortete er auf die Frage nach dem Abstimmungsverhalten. Die Sitzungen seien geheim, ergänzt der Bundesratssprecher.

20.12.2024, 16:01 Uhr

FDP: «Verbessertes Verhandlungsergebnis»

Die FDP spricht in einer Medienmitteilung von einem «verbessertem Verhandlungsergebnis». «Das heute vorgestellte Verhandlungsergebnis übertrifft die Resultate des letzten Anlaufs im Jahr 2021.» Unter anderem bei der Schutzklausel habe der Bundesrat mehr erreicht. Bei der FDP werde die Delegiertenversammlung über den Vertrag entscheiden. 

20.12.2024, 15:59 Uhr

Zeitplan: Vernehmlassung bis im September

Cassis erklärt nochmals den Zeitplan. Bis im Sommer werden die Verträge finalisiert, danach beginnt eine Vernehmlassung bis im September. Ende Jahr soll die Botschaft dann ans Parlament verabschiedet werden. Wie lange dieses dann brauche, könne der Bundesrat nicht sagen, darauf habe er keinen Einfluss. 

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