Es war eine Reise ganz nach Viola Amherds Geschmack: Ihr erster Auslandstrip als Bundespräsidentin führte sie an die Ostflanke der Nato. In den Hauptstädten Tallinn (Estland) und Oslo (Norwegen) machte sich die VBS-Chefin ein Bild der Lage.
Dabei warb Amherd für die Ukraine-Friedenskonferenz, die sie mit Aussenminister Ignazio Cassis (62) in Genf ausrichten will. Und liess keinen Zweifel daran, dass sie die Schweiz näher an die Nato rücken will. Was auch bedeutet, die Schweizer Neutralität neu auszulegen.
Der norwegische König Harald V. (86) ist für Viola Amherd (61) eine Art Kronzeuge dafür, dass geopolitischer Dogmatismus in Kriegszeiten nicht weiterhilft. Norwegen ist Nato-Mitglied, also alles andere als neutral. Und doch gelingt es dem Land am Polarkreis, seine «guten Dienste» beiden Konfliktparteien anzubieten.
Studienkommission Sicherheitspolitik steht Neutralitätsinitiative kritisch gegenüber
Zwar hält Amherd eine aktive Mitwirkung der Schweiz im westlichen Bündnis für ausgeschlossen. Auch in der von ihr eingesetzten Studienkommission Sicherheitspolitik sind nach Informationen von Blick die Befürworter eines Nato-Beitritts in der Minderheit. Dennoch steht die Kommission der Neutralitätsinitiative kritisch gegenüber. So geht es aus einem geheimen Entwurf hervor, der Blick vorliegt.
Die von SVP-Kreisen lancierte Initiative will die Schweizer Neutralität in der Verfassung verankern. Dort soll es künftig heissen: «Die Schweiz ist neutral. Ihre Neutralität ist immerwährend und bewaffnet.» Doch die Studienkommission hält das für kontraproduktiv: Die Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit der Schweiz, so der Entwurf des Positionspapiers, würde durch eine Annahme der Initiative «stark infrage gestellt. Es wäre eine staatspolitische Niederlage.» Stattdessen solle sich die Schweiz zur bewaffneten Neutralität bekennen. Dies bedeute eine «möglichst vollständig ausgerüstete, genügend alimentierte und professionell ausgebildete Milizarmee».
Die Studienkommission warnt vor einem «sturen Neutralitätsautomatismus». Sollte ein europäisches Land oder die Schweiz angegriffen werden, müsse die Neutralität ausgesetzt werden können. Ein völkerrechtlich verbindlicher Entscheid des Uno-Sicherheitsrats würde dazu genügen.
Mit der Frage, ob die Neutralitätspolitik über dem Neutralitätsrecht stehen soll, hat sich die Kommission ebenfalls beschäftigt. Auch hier seien Beschlüsse der Vereinten Nationen entscheidend. Angesichts der Tatsache, dass längst nicht nur Staaten Krieg führen, sondern auch kleinere bewaffnete Organisationen in Bürgerkriege eingreifen, wirke das Neutralitätsrecht des 19. Jahrhunderts wie aus der Zeit gefallen.
Neutralität schadet dem Rüstungsstandort Schweiz
Die Studienkommission kann sich eine Revision des Kriegsmaterialgesetzes vorstellen. Allerdings: «Insellösungen (Lex Ukraine) sind ein verzweifelter Versuch, aus der selbst verschuldeten Sackgasse herauszukommen», heisst es in dem Berichtsentwurf.
Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine zeigen sich Nato-Partner über die Schweizer Exportvorschriften für Kriegsmaterial verärgert. So rosten in Norditalien 96 Leopard-1-Panzer der Ruag vor sich hin, weil sie nicht über die Niederlande in die Ukraine gelangen dürfen. Aufgrund des Neutralitätsrechts hat der Rüstungsstandort Schweiz an Attraktivität eingebüsst. «Nach den Erfahrungen aus dem Ukraine-Krieg werden sich Staaten überlegen, ob sie Rüstungsgüter von der Schweiz kaufen», sagte die dänische Botschafterin Susanne Hyldelund (55) im November zu Blick.
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Das Beispiel des deutschen Rüstungsunternehmens Rheinmetall zeigt, was dies praktisch bedeuten kann. Früher produzierte der Konzern Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard in Altdorf UR, setzt wegen der Schweizer Exporthürden nun aber ganz auf «Made in Germany».
Letztes Jahr investierte Rheinmetall mehrere Millionen Euro in eine neue Anlage im Südteil der Lüneburger Heide. Der Schweiz entgehen dadurch Millionen, denn der Heide-Standort Unterlüss (D) wird weiter ausgebaut, die Wertschöpfung in der Schweiz hingegen reduziert.
Wie das deutsche Nachrichtenmagazin «Spiegel» berichtet, wird Bundeskanzler Olaf Scholz (65) morgen in Unterlüss zur Grundsteinlegung eines Munitionswerks erwartet. Es geht um ein 300-Millionen-Investment. «Unser Ziel ist es, ab 2025 die Versorgungssicherheit für den Munitionsbedarf herzustellen», sagt Rheinmetall-Boss Armin Papperger (61). «Wir müssen in Deutschland endlich unabhängiger werden bei der Produktion von Mittelkalibermunition.» Will heissen: auch unabhängiger von der Eidgenossenschaft.
Dennoch immer noch begehrt
Trotz des sperrigen Kriegsmaterialgesetzes sind Schweizer Rüstungsgüter nach wie vor begehrt. So konnte Rheinmetall im Dezember 2023 zwei lukrative Verträge mit dem Ableger in Zürich-Oerlikon abschliessen: Österreich bestellte ein Skyguard Flugabwehrsystem im Wert von mehr als 532 Millionen Euro, das Nato-Land Rumänien ein Flugabwehr-Artilleriesystem im Wert von 328 Millionen. Der Schweizer Rüstungsindustrie geht es also besser, als die Lobbyisten von Swissmem im Bundeshaus bisweilen unterstellen.
Viola Amherds Studienkommission fasst zusammen: «Der Drache, der dieser Industrie auf den Fersen ist, heisst nicht nur Wiederausfuhrverbot, sondern es wird zu wenig verstanden, dass das Kriegsmaterialgesetz nicht in jedem Fall dem Neutralitätsrecht unterliegt. Dies führt zu Verunsicherungen und schadet letztendlich der Zuverlässigkeit der Schweiz als Lieferant und Dienstleister.»
Neutralität muss revidiert werden
Künftig solle für bestimmte Länder mit strikten Ausfuhrgesetzen die Nichtwiederausfuhr auf wenige Jahre beschränkt bleiben. Danach müssten die mehrheitlich westlichen Staaten das Kriegsmaterial exportieren dürfen.
Die Studienkommission hält es auch für denkbar, dass die Schweiz den Begriff der humanitären Hilfe umfassender auslegt. Momentan sei es schwierig, ukrainische oder russische Soldaten in der Schweiz zu behandeln – dabei sehe das Völkerrecht etwas anderes vor. «Ob der geheilte Soldat wieder zur Waffe greifen will oder muss, ist irrelevant. Das Internationale Rote Kreuz, der Inbegriff des Neutralen, versorgt bedingungslos und ohne Rücksicht auf die Zukunft die ‹most vulnerable people›», also die Verwundbarsten, hält die Kommission fest. «Das muss auch für die neutrale Schweiz gelten. Dies gilt es durch die Neutralitätspolitik zu regeln.»
Im Sinne einer revidierten «kooperativen Neutralität» kann sich die Studienkommission vorstellen, den Handlungsspielraum für «mehr Mitverantwortung für die Sicherheit in Europa zu übernehmen». Mit anderen Worten: «Die Neutralen sind nicht immer die Gleichgültigen.»