Herr Schäuble, Sie gelten als grosser Freund der Schweiz. Sind Sie das tatsächlich?
Wolfgang Schäuble: Ich habe eine grosse Sympathie für die Schweiz. In der Kindheit durfte ich meine Tante in Luzern besuchen. Sie ist nach dem Ersten Weltkrieg in die Schweiz ausgewandert, um dort zu arbeiten. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam ich aus dem zerstörten Schwarzwald und habe sie besucht. Die Schweiz war ein Paradies für mich.
Welchen Tipp geben Sie der Schweiz für die schwierigen Verhandlungen mit Brüssel beim Rahmenabkommen?
Diese Debatte muss die Schweiz selber führen. Öffentliche Ratschläge von aussen helfen da nicht. Ich habe mich in Brüssel immer dafür eingesetzt, dass mit der Schweiz respektvoll umgegangen wird.
Sind Sie nach wie vor überzeugt, dass die Schweiz EU-Mitglied werden sollte?
Ja, aber ich sage auch immer: Das entscheidet die Schweiz selber. Wir werden sie da nicht drängen. Die Tür für sie steht offen. Die Schweiz ist von vielem, was in Europa läuft, positiv wie negativ betroffen. Erfahrungsgemäss ist es besser, wenn man mitentscheiden kann. Die Briten sehen inzwischen, dass sie mit dem Brexit nicht so ganz glücklich geworden sind.
Verstehen Sie die Schweizer Neutralität im Jahr 2023?
Putin betreibt eine brutale Expansionspolitik. Dennoch hindert die Schweiz Deutschland daran, der Ukraine dringend benötigte Waffen und Munition zu liefern. Die Schweiz muss sich fragen, ob ihre Einstellung zur immerwährenden Neutralität in dieser schrecklichen Lage eine kluge Position ist.
Welche gesichtswahrende Lösung könnte Bern treffen, um zu sagen: Wir helfen dem Westen doch?
Die Schweiz muss nicht dem Westen helfen. Die Schweiz muss zu ihren eigenen Überzeugungen stehen. Wenn ein so brutaler Angriffskrieg gegen die Ukraine stattfindet, dann finde ich, dass die Schweizer Verpflichtung zur immerwährenden Neutralität neu diskutiert und entschieden werden sollte. Aber das ist eine Debatte, die Bern besser für sich selber führt und nicht aufgrund altkluger Ratschläge von Politikern, die ausserhalb der Schweiz sitzen und sich Richtung Ruhestand bewegen (lacht).
Deutschland hat mit Wladimir Putin jahrelang gute Geschäfte gemacht, gerade beim Gas. Im Zentrum der Kritik stehen die ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder und Angela Merkel.
Entschuldigen Sie, aber Sie können Schröder und Merkel nicht in einem Atemzug nennen. Ich möchte mich zu Schröder auch ungern äussern. Aber dass ein deutscher Bundeskanzler unmittelbar nach seiner Amtszeit so enge Kontakte zu einem Diktator wie Putin hat, das ist in vielfältiger Hinsicht schwierig.
Wolfgang Schäuble (80) ist der dienstälteste Politiker Deutschlands. Er stammt aus dem Südschwarzwald. Seit einem Attentat im Jahre 1990 ist er querschnittsgelähmt. Eigentlich wollte der CDU-Politiker Kanzler werden. Doch Helmut Kohl verhinderte das. Später zog Angela Merkel an Schäuble vorbei. Unter ihr war er erst Innen-, später Finanzminister. Von 2017 bis 2021 war er Bundestagspräsident.
(Dieses Interview wurde im Mai 23 zum ersten Mal publiziert. Blick veröffentlichte es erneut nach der Nachricht seines Todes Ende Dezember desselben Jahres)
Wolfgang Schäuble (80) ist der dienstälteste Politiker Deutschlands. Er stammt aus dem Südschwarzwald. Seit einem Attentat im Jahre 1990 ist er querschnittsgelähmt. Eigentlich wollte der CDU-Politiker Kanzler werden. Doch Helmut Kohl verhinderte das. Später zog Angela Merkel an Schäuble vorbei. Unter ihr war er erst Innen-, später Finanzminister. Von 2017 bis 2021 war er Bundestagspräsident.
(Dieses Interview wurde im Mai 23 zum ersten Mal publiziert. Blick veröffentlichte es erneut nach der Nachricht seines Todes Ende Dezember desselben Jahres)
Angela Merkel war 16 Jahre lang Bundeskanzlerin, Sie waren zwölf Jahre Teil der Merkel-Regierung.
Wir alle haben gehofft, dass Russland sich anders entwickelt. Der polnische Staatspräsident Lech Kaczynski, der später bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, warnte nach Russlands Angriff auf Georgien 2008: «Erst kommt Georgien, dann die Ukraine, dann Moldawien, dann die baltischen Staaten und dann Polen.» Wir alle haben gesagt: «Was der da wieder redet!» Aber er hatte recht.
Gibt es da etwas, was Sie sich persönlich vorwerfen?
Auch ich hätte früher erkennen können, dass wir falsch liegen. Auch bei mir war die Hoffnung grösser, dass wir nicht mehr in solch finsteren Zeiten leben werden – wobei ich früher als andere vor Putin gewarnt habe. Jetzt geht es darum, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ich kenne niemanden, der sagen würde: «Wenn Putin gewinnt, ist er zufrieden.» Das müssen wir alle begreifen, auch die Deutschen und die Schweizer. Und deswegen ist es besser, wir unterstützen die Ukraine in ihrem heldenhaften Kampf, den sie am Ende für uns alle führt.
Putin hat viele Feindbilder, allen voran die Nato.
Ich war damals mit Bundeskanzler Helmut Kohl beteiligt, als es nach dem Fall der Mauer um die Nato-Osterweiterung ging. Gorbatschow akzeptierte, dass das vereinte Deutschland Teil des atlantischen Bündnisses wird. Wir hatten die Hoffnung, mit Jelzin und später mit Putin enge wirtschaftliche und politische Beziehungen mit Russland und den anderen Nachfolgestaaten zu entwickeln. In Bezug auf Putin war das eine Täuschung und Enttäuschung.
Manche behaupten, Wladimir Putin habe im Syrienkrieg die entscheidende Wende vollzogen: als US-Präsident Obama zunächst von roten Linien sprach – und nach dem Einsatz von Chemiewaffen durch Assad dennoch untätig blieb. Putin hat daraus den Schluss gezogen, er könne machen, was er wolle. Ist an dieser These etwas dran?
Die einzige westliche Macht, die Putin in die Schranken weisen kann, sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Wenn diese Weltmacht eine rote Linie zieht, dann muss sie deren Überschreiten sanktionieren. Sonst macht die rote Linie keinen Sinn. Abschreckung ist die beste Form, um den Frieden zu erhalten.
Geopolitisch werden die Karten seit einiger Zeit neu gemischt. Hat der Westen eine Chance – oder verliert er in den nächsten 20 Jahren den Machtkampf gegen China und Indien?
Ich bin gar nicht so pessimistisch für den Westen. Die meisten Menschen auf der Welt schätzen eine freiheitliche, rechtsstaatliche Demokratie und eine soziale Marktwirtschaft. Wir haben eine hohe Attraktivität. Es liegt an uns, dass wir es besser machen.
Ausser der Neutralität steht zurzeit ein zweites Schweizer Dogma auf dem Prüfstand: der Bankenplatz. Wie haben Sie den 19. März erlebt, das Ende der Credit Suisse?
Dass Banken in eine Krise geraten können, ist nichts Neues. Den Schweizer Banken geht es ja schon länger nicht mehr so gut wie früher. Und doch hat es mich bewegt, vom Ende der Credit Suisse zu erfahren. Auch in der Schweiz zeigen sich die Folgen einer riskanten Bankenstrategie, die sich an überzogenen Renditen ausrichtet. Arg überrascht hat es mich aber nicht. Und nun ist dieses Modell mit den überzogenen Renditeerwartungen sogar in der Schweiz gescheitert. Auch bei der Deutschen Bank hat ein Schweizer keine besonders geschätzte Rolle gespielt.
Sie sprechen von Joe Ackermann, dem ehemaligen Chef der Deutschen Bank.
Dazu will ich mich nicht äussern. Mir geht es generell um das Streben nach überzogenen Renditen. Schon beim Apollo-Tempel in Delphi steht, man sollte nichts im Übermass tun. Deswegen ist es nicht verwunderlich, wenn überzogene Erwartungen am Ende in solchen Katastrophen enden. Diese Erfahrung musste auch Deutschland in der Finanzkrise machen.
Viele Menschen verstehen nicht, wie 15 Jahre nach der UBS nun erneut eine systemrelevante Bank gerettet werden muss – diesmal die Credit Suisse. Sind Banken-Crashs Teil des Systems?
Freiheit ohne Grenzen zerstört sich selber. Das gilt auch in der Finanzwirtschaft. Das ist ein immerwährender Prozess. Die Politik muss versuchen, neue Regeln zu finden, die den Rahmen setzen – die Politik sollte allerdings nicht meinen, alles besser machen zu können. Menschen und Institutionen suchen immer neue Wege, um masslose Rendite- oder Gewinnerwartungen zu erfüllen.
Viele warnen seit der Übernahme der Credit Suisse durch die UBS vor einer Megabank. Was bedeutet diese Krise für die Zukunft von «Too big to fail»?
«Too big to fail» ist ein schöner Satz, der klingt zunächst überzeugend: Die Bank ist zu wichtig, also muss man sie retten. Man hat die Credit Suisse ja auch gerettet. Doch die Konsequenz darf nicht sein, dass daraus ein noch grösseres Risiko entsteht. Denn das wäre noch schlimmer. Insofern wäre es besser, wenn man die Entwicklung zu immer grösseren Einheiten, zu immer grösseren Monopolen oder Oligopolen bremsen würde. Aber wir sehen auch im IT-Bereich, wie schwierig es ist, gegen die Dynamik der grossen amerikanischen Konzerne in Kalifornien mit ihren unglaublichen Kapitalmengen Schritt zu halten. Ich wünsche der Schweiz alles Gute.
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