Wandelbares Konzept
Die «wahre» Neutralität?

In seinem Buch erörtert Marco Jorio, wie die schweizerische Neutralität entstand und sich immerzu den Zeitverhältnissen anpasste. Heute legt man die Neutralität viel zu rigoros aus, findet der Historiker.
Publiziert: 07.05.2023 um 10:02 Uhr
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Seit Russland die Ukraine überfallen hat, streitet die neutrale Schweiz um die Neutralität.
Foto: AFP
Marco Jorio*

In diesen Tagen wird wieder einmal um die «wahre Neutralität» gerungen. Nur: Die «wahre Neutralität» oder die Neutralität schlechthin gibt es nicht. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es Neutralität gibt, seit es Kriege gibt. Bei der Neutralität handelt es sich um ein flexibles und dehnbares Konzept, das sich im Lauf der Jahrhunderte dauernd gewandelt hat.

Spätantike und Mittelalter versuchten, den Krieg einzudämmen, und entwickelten die inzwischen wieder aktuelle Vorstellung des «Gerechten Kriegs». So führte ein Angegriffener einen gerechten Krieg, der Aggressor aber einen ungerechten Krieg. In dieser Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse gab es grundsätzlich keine Neutralität. Ab dem 16. Jahrhundert setzte sich das Konzept der souveränen Staaten durch. Jeder Staat hatte nun das Recht, Krieg zu führen, aber auch das Recht, nicht Krieg zu führen und neutral zu bleiben. Aber erst 1907, im Zeitalter des Imperialismus und Kolonialismus, wurde die Neutralität in den Haager Konventionen völkerrechtlich geregelt.

Die Eidgenossenschaft war bis 1600 nicht neutral und führte erfolgreiche Eroberungskriege. Sonst wäre sie ja gar nicht entstanden. Dass Niklaus von Flüe schon 1481 die Neutralität «angemahnt» haben soll, ist eine Legende. Sein viel zitierter Spruch «Mischt euch nicht in fremde Händel» wurde ihm in den Mund gelegt. Auch die Schlacht von Marignano von 1515 war keine Wende zur Neutralität: Noch 1535 eroberten die Westkantone in einem kurzen Krieg die Waadt. Erst im Dreissigjährigen Krieg (1618–1648) entschied sich die Schweiz für die Neutralität und führte sie anschliessend als «dauernde Neutralität» fort. Mit der französischen Aggression von 1798 gingen das Ancien Régime und mit ihm die alteidgenössische Neutralität unter. Aber nach dem Sturz Napoleons holte sich die Schweiz die Neutralität zurück. Nach einem hartnäckigen Verhandlungsmarathon anerkannten die Siegermächte am 20. November 1815 im Umfeld des Zweiten Pariser Friedens die Neutralität. Dass diese der Schweiz am Wiener Kongress «auferlegt» worden sei, gehört auch in das Reich der Legenden.

Neutralität durch Weltkriege mythisch überhöht

Seither blieb die Eidgenossenschaft in allen Kriegen neutral, das heisst, sie nahm militärisch an keinem Konflikt teil und versuchte, in einem gefährlichen Balanceakt den Weg zwischen den Kriegsparteien zu finden. Das gelang je nach Situation mehr oder weniger gut. Da sich der neutrale Weg vor allem in den beiden Weltkriegen als erfolgreich erwies, wurde die Neutralität in der öffentlichen Meinung mythisch überhöht und geradezu ein zentrales Element der nationalen Identität. Sie spielte bis zum Ende des Kalten Kriegs die dominierende Rolle in der Aussenpolitik.

Nach 1990 geriet die Neutralität in die Krise. Politiker, Intellektuelle und Medienschaffende erklärten die Neutralität als «Worthülse», als veraltet und unnütz in einem kriegsfreien Europa und spedierten sie auf die Müllhalde der Geschichte. Bundesrat und Parlament zogen die Konsequenzen und beschränkten die Neutralität 1993 auf den «militärischen Kern». Die Neukonzeption scheiterte grandios. Die Schweizer Bevölkerung samt einem grossen Teil der politischen Elite hielt an den ausufernden Vorstellungen der Neutralität aus dem Kalten Krieg fest: bis heute. Schon im Jahr 2000 musste der Bundesrat das Scheitern seiner Neuorientierung eingestehen. Dann verschwand die Neutralität weitgehend aus der öffentlichen Diskussion.

Schweiz fällt in Neutralitätsmuster des Kalten Kriegs zurück

Seit dem 24. Februar 2022 sind der Krieg in Europa und mit ihm die Neutralität wieder zurück. Und was macht die Schweiz? Sie fällt ins alte Neutralitätsmuster des Kalten Kriegs zurück. Es rächt sich nun, dass unser Land nach dem Uno-Beitritt 2002 seine Neutralität nicht neu justiert und sie an der Uno-Charta ausgerichtet hat. Diese verwirft nämlich wie schon der Völkerbund 1920 das Recht der Staaten auf Krieg und verbietet jede Gewaltanwendung. Nur ein angegriffener Staat hat das «naturgegebene Recht» auf Selbstverteidigung (Art. 51). Das Konzept des gerechten Kriegs ist zurück. Anstatt sich an den Werten der Uno-Charta zu orientieren, holte die Schweiz die veraltete, von keinem anderen Staat mehr angewendete Haager Konvention von 1907 aus der Mottenkiste. Sie kombiniert diese mit eigenen nationalen Gesetzen wie dem exzessiv rigorosen Waffenausfuhrverbot. Dieses schiesst mit dem Wiederausfuhrverbot weit über die Erfordernisse der Neutralität hinaus und sabotiert damit Artikel 51 der Uno-Charta.

Die heutige Umsetzung der Neutralität stösst im In- und vor allem im Ausland auf Unverständnis. Sie ist auch nur schwer zu vermitteln. Die einzelnen Elemente der heutigen schweizerischen Neutralität passen nicht aufeinander. Da nützen alle Erklärungsversuche nichts. Was dysfunktional ist, kann argumentativ nicht zurechtgebogen werden. Es gibt aber keinen Grund, nun die Neutralität Hals über Kopf aufzugeben. Aber die Schweiz muss ihre Neutralität grundsätzlich neu denken. Als Richtschnur müssen die Uno-Charta und die Bundesverfassung dienen. Es braucht eine neue Neutralitätskonzeption – und zwar subito.

* Marco Jorio war Chefredaktor des Historischen Lexikons der Schweiz. Soeben ist von ihm im Verlag Hier und Jetzt das Buch «Die Schweiz und ihre Neutralität. Eine 400-jährige Geschichte» erschienen.

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