Die Klimaseniorinnen jubeln. Der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt die Schweiz, weil sie zu wenig für den Klimaschutz tut. Nur: Was heisst das genau? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Was steht im Urteil?
Auf den 260 Seiten wird die Schweiz verurteilt, weil sie das Recht auf Privatleben sowie das Recht auf ein faires Verfahren verletzt.
- Das Recht auf Privatleben umfasst auch die Gesundheit eines Menschen. Diese sieht das Gericht durch den Klimawandel bedroht. Und weil die Schweiz eine Pflicht hat, das Privatleben zu schützen, muss sie etwas gegen den Klimawandel tun. Doch dort seien Fehler unterlaufen, heisst es im Urteil. So hätte man kein CO2-Budget erstellt (dieses rechnet aus, wieviel CO2 pro Kopf unter dem Strich verursacht werden darf, um die globale Erwärmung auf 1,5 Grad begrenzen zu können) und die selbst gesteckten Ziele nicht erreicht.
- Die zweite Verurteilung betrifft den Zugang zum Gericht. Die Seniorinnen wurden vor den Schweizer Gerichten nicht angehört. Auch das war falsch, sagt das europäische Gericht.
Kann die Schweiz das Urteil einfach ignorieren?
Nein. «Die Schweiz hat einen völkerrechtlichen Vertrag abgeschlossen und muss diesen einhalten», sagt Rechtsprofessor Sebastian Heselhaus von der Uni Luzern. Der Vertrag ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), deren Einhaltung vom Gerichtshof überprüft wird. Als Reaktion auf das Urteil hat die SVP bereits gefordert, die Konvention zu kündigen.
Was muss die Schweiz jetzt machen?
Das Urteil ist rechtsgültig und bindend. «Die Schweiz muss mehr für den Klimaschutz machen», erklärt Heselhaus. Das bestätigt auch das Bundesamt für Justiz. «Das Urteil muss umgesetzt werden.» Zusammen mit den betroffenen Behörden werde nun prüfen, welche Massnahmen die Schweiz ergreifen muss. Das schreibt das Gericht nicht vor, wie Heselhaus sagt. «Das bleibt Sache der Politik.»
Mehr zum Klima-Urteil
Jedoch gibt es durchaus Aufträge. «Das Gericht sagt, dass die Schweiz ihre Ziele überprüfen und Angaben zu Zwischenzielen, Reduktionspfaden und verbleibendem Emissionsbudget machen muss», so der Professor.
Kommen jetzt neue Klima-Abgaben?
Das ist ein politischer Entscheid. Auch wenn das Gericht die Schweiz rügt – es hat keine Massnahmen festgelegt. Bislang gibt es das CO2-Gesetz, das einzelne Massnahmen regelt. Es enthält aber keine neuen Abgaben. Die Schweiz stimmt zudem im Juni über das Stromgesetz ab, das erneuerbare Energien fördern soll. Auch dafür gibt es keine neuen Abgaben, bestehende werden jedoch verlängert.
Wie wird überprüft, ob die Schweiz genügend für den Klimaschutz macht?
Das Ministerkomitee des Europarats überwacht, ob das Urteil umgesetzt wird. Wenn nicht, wird die Nichtumsetzung immer wieder zum Thema dort. Im schlimmsten Fall kann das Ministerkomitee einem Staat das Recht auf Vertretung im Europarat entziehen oder ihn auffordern, seinen Austritt aus der EMRK zu erklären. Allerdings: Beide Mittel sind bisher noch in keinem Fall zum Einsatz gekommen. Wahrscheinlicher wären weitere Klagen in der Schweiz und Europa.
Und was, wenn die Schweizer nicht mehr Klimaschutz wollen?
2021 lehnte das Stimmvolk das CO2-Gesetz ab. Dieses hätte stärkere Klimaschutzmassnahmen bedeutet. Was, wenn sich so etwas wiederholt? Dann muss die Schweiz versuchen, die Klimaziele mit anderen Massnahmen zu erreichen. «Gelingt das nicht, könnten die Klimaseniorinnen wieder klagen», sagt Heselhaus. Und dann müssten die Schweizer Gerichte sie anhören.
Einen Volksentscheid kann auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht umstürzen. «Aber die Verletzung der Konvention würde bestehen bleiben. Will man nicht mehr Klimaschutz, müsste man konsequenterweise die Konvention oder das Paris-Abkommen kündigen.»
Was bedeutet das Urteil für die Klimaseniorinnen?
Die Klimaseniorinnen jubeln wegen des Entscheids. Damit urteilt das Gericht zum ersten Mal über Klimaschutzfragen. Auch finanziell profitieren die Klimaseniorinnen, zumindest ein bisschen. Die Schweiz muss dem Verein 80'000 Euro für seine Auslagen zahlen. Allerdings seien seit dem Start der Verfahren in der Schweiz Kosten in der Höhe von über einer Million entstanden, schreibt Greenpeace. Die Umweltschutzorganisation hat die Klage initiiert und auch finanziell gefördert. Rund zwei Drittel der Kosten haben die privaten Spender übernommen.
Was ist der EGMR überhaupt?
Der Europäische Gerichtshof überwacht, wie die Menschenrechte in der Schweiz und anderen europäischen Ländern eingehalten werden. Gegründet wurde das Gericht von den Mitgliedstaaten des Europarats, zu denen auch die Schweiz gehört. Jedes Land stellt einen Richter, der jeweils auch über die Fälle mitentscheidet. Für die Schweiz ist das Andreas Zünd (67). Auch beim Fall der Klimaseniorinnen hat er mitentschieden.
Der EGMR hatte schon häufiger Einfluss auf die Gesetze in der Schweiz. Ein aktuelles Beispiel ist die Witwerrente: Die Schweiz machte bei Renten für verwitwete Personen eine unzulässige Ungleichbehandlung zwischen Männern und Frauen. Darum musste der Bund das Gesetz anpassen.