Für einen Apriltag ist es warm, als der Zug von Oda Müller (79) in Richtung Strassburg (F) fährt. Dort entscheiden die Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte über eine Klage des Grosis. Zusammen mit über 2500 Klimaseniorinnen verlangen sie von der Schweiz, mehr gegen den Klimawandel zu tun. «Gerade wir Seniorinnen spüren die Folge von Hitzewellen besonders.»
Über ein Jahr ist es her, seit vor Gericht verhandelt wurde. Dann hiess es warten auf das Urteil. Am Dienstag kommt es: «Wir haben Wimpel gebastelt, um sie vor der Urteilsverkündung zu schwenken. Plötzlich mussten wir uns beeilen», sagt Müller lachend.
Eine Stunde Mails – pro Tag
Begonnen hatte der Kampf für mehr Klimaschutz 2016. «Wir wurden belächelt», erinnert sich Müller. «Auch ich habe es zu Beginn eher nebenbei gemacht.» Zuerst klagten die Seniorinnen vor dem Umweltdepartement. Nachdem dieses das Anliegen abgelehnt hatte, zogen sie vor die Gerichte – bis auch das Bundesgericht den Fall abwies. Die Seniorinnen seien nicht stark genug vom Klimawandel betroffen. Also weiter nach Strassburg. «Mittlerweile brauche ich etwa eine Stunde pro Tag, nur um all die Mails zu beantworten», erklärt Grosi Müller, die es mittlerweile zu einer gewissen Bekanntheit gebracht hat.
Der Weg durch die Gerichte war kostspielig – und wohl nur möglich dank der finanziellen Unterstützung durch die Umweltorganisation Greenpeace. Das brachte den Klimaseniorinnen den Vorwurf ein, sich instrumentalisieren zu lassen. «Ich mache das auch für meine Kinder und Enkel», kontert Müller. Sie sollen sich nicht wegen des Klimawandels einschränken müssen. Und schliesslich ist es nicht verwerflich, sich Unterstützung zu holen.
Müller sieht sich selbst als «Mit-Verursacherin des Klimawandels» und will das wiedergutmachen. Mittlerweile hat Müller ihr Auto verkauft und fliegt nicht mehr.
Greenpeace koordiniert die Aktivitäten, hilft bei der Kommunikation und der Zusammenarbeit mit dem Rechtsteam. Aber: «Der Verein ist eigenständig», sagt Georg Klingler von Greenpeace. Die Unterstützung ist auch finanziell: «In den neun Jahren seit Bestehen der Klimaseniorinnen sind Kosten in der Höhe von über einer Million Franken entstanden», sagt Klingler. Das beinhalte Gerichts- und Anwaltskosten sowie Übersetzungen. «Rund zwei Drittel davon hat Greenpeace, das heisst private Spenderinnen finanziert.»
Grosse Auswirkungen
17 Richterinnen und Richter – darunter mit Andreas Zünd (67) auch ein Schweizer – sprechen das Urteil. Es wird grosse Auswirkungen auf ganz Europa haben, weil es das erste Klima-Urteil des Gerichts ist.
Das beste Resultat für Oda Müller wäre eine Verurteilung der Schweiz, weil sie das Recht auf Leben und/oder Gesundheit verletzt hat. Ob das Gericht jedoch tatsächlich so weit geht, ist fraglich. Mehr noch, es wäre eine Sensation.
Denkbar ist auch eine Verurteilung, weil die Schweizer Gerichte das Anliegen der Klimaseniorinnen nicht genau genug geprüft haben. Dann würde das Spiel wieder von vorne losgehen. Der Fall ginge wieder retour an die Schweizer Gerichte.
Die Schweiz hofft hingegen, dass die Richter die Klage abschmettert: Der Klimaschutz sei keine juristische Frage, sondern eine politische, sagten sie vor Gericht. Man unternehme zudem schon viel für den Klimaschutz.
Nicht bloss ein Stein
Wenn die Richter ihr Urteil sprechen, wird Oda Müller eine Elefantenkette um den Hals tragen. «Mein Glücksbringer.» Sie hofft eine Verurteilung der Schweiz – sagt aber auch: «Wir werden feiern, egal wie es herauskommt. Schon jetzt haben wir viel erreicht.» Und wenn es gar eine Verurteilung gibt, fällt Oda Müller kein Stein vom Herzen, sondern ein ganzer Elefant.