Oda Müller (79) kommen die Tränen, es sind Freudentränen. Acht Jahre lang hat sie mit den Klimaseniorinnen gekämpft, dass die Schweiz mehr für den Klimaschutz tut. Am Dienstag in Strassburg wird klar: Es hat sich gelohnt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt die Schweiz, zu wenig für den Klimaschutz getan zu haben und damit die Grundrechte – nämlich das Recht auf Gesundheit – von Oda Müller und anderen verletzt zu haben.
Im Schweizer Gesetzgebungsprozess habe es «kritische Lücken» gegeben, sagt das Gericht. So wurden die nationalen Grenzwerte für Treibhausgasemissionen nicht genau beziffert. Ausserdem habe die Schweiz ihre eigenen Ziele nicht erreicht, heisst es im Urteil.
Ein Elefant als Glücksbringer
«Es ist eine Sensation, die Freude ist riesig», erklärt Müller kurz nach Urteilsverkündung. Noch beim Zmorge sei sie sehr angespannt gewesen. Dann geht es zum Gericht, noch einige letzte Fotos, und hinein in den Saal. Immer mit dabei: Eine Elefantenkette als Glücksbringer.
Oda Müller sitzt aufrecht, als die Vorsitzende den Entscheid der 17 Richterinnen und Richter – darunter auch ein Schweizer – auf Englisch verkündet. «Vieles habe ich verstanden, alles klang positiv, doch bis zuletzt hatte ich Zweifel.» Was, wenn die Richter in ihrer Urteilsbegründung im letzten Moment doch noch alles relativieren? Kurz nach 10.30 Uhr ist klar: Nein. Die Schweiz wird verurteilt. «Erst als ich umarmt wurde, habe ich realisiert, dass wir gewonnen haben.»
Und es ist ein historisches Urteil: Erstmals hat der EGMR Klimaschutz als Menschenrecht anerkannt. Dementsprechend dürfte das Urteil weitreichende Folgen haben, nicht nur für die Schweiz, sondern auch für andere europäische Länder. So könnten weitere Klagen gegen andere Staaten folgen.
Hinter den Grosis steckt Greenpeace
Gross ist der Erfolg auch für Greenpeace. Die Umweltschutzorganisation hat die Klage der Klimaseniorinnen initiiert, koordiniert und auch finanziert. Begonnen hatte der Kampf für mehr Klimaschutz 2016. Zuerst klagten die Seniorinnen vor dem Umweltdepartement. Nachdem dieses das Anliegen abgelehnt hatte, zogen sie vor die Gerichte – bis auch das Bundesgericht den Fall abwies. Die Seniorinnen seien nicht stark genug vom Klimawandel betroffen. Also weiter nach Strassburg, wo die Seniorinnen jetzt Recht bekommen haben.
Gegen das Urteil kann kein Rekurs eingelegt werden, es ist für die Schweiz bindend. Jedoch legt der Gerichtshof keine konkreten Klimaschutz-Massnahmen fest, welche die Schweiz jetzt ergreifen muss. Das kann er auch nicht, dieser Entscheid obliegt dem Bundesrat und dem Parlament und letztlich auch dem Volk. Hingegen muss die Schweiz ihre Ziele, Zwischenziele und den Weg dorthin genau berechnen. Das Urteil dürfte die künftige Politik beeinflussen und für das Parlament ein Warnschuss sein.
Bund: Urteil «muss umgesetzt werden»
Kurz angebunden gibt sich der Bund: Man habe vom Urteil «Kenntnis genommen», heisst es beim zuständigen Bundesamt für Justiz. «Dieses ist endgültig und muss umgesetzt werden.» Zusammen mit den betroffenen Behörden werde man nun das Urteil analysieren und prüfen, welche Massnahmen die Schweiz für die Zukunft ergreifen muss.
Oda Müller ist überzeugt: Das Urteil habe grosse Auswirkungen. «Die Schweiz muss ihre Gesetze ändern», sagt sie. Dennoch ist für sie klar: Der Kampf soll weitergehen. Zuerst aber wird gefeiert. Zwar gabs noch keinen Champagner im Gericht, aber viele Umarmungen, Gratulationen und Freudentränen.