Es ist schon reichlich bemerkenswert, wenn ein Parteipräsident öffentlich auf Distanz zu seinem Bundesrat geht. Noch genaueres Hinsehen ist geboten, wenn es sich um die Sozialdemokraten mit ihrer notorischen Wagenburgmentalität handelt – erst recht dann, wenn sich gleich beide Mitglieder der Doppelspitze zur öffentlichen Schadensbegrenzung im Wahljahr bemüssigt fühlen.
Geschehen ist das vergangenen Dienstag, und der Anlass war – wieder einmal – Alain Berset (50), der zuvor in «Le Temps» und dann in der «NZZ am Sonntag» jene Leute eines «Kriegrauschs» bezichtigt hatte, die sich zumindest für eine indirekte Rüstungshilfe für die Ukraine aussprechen. Der Bundespräsident bediente sich damit beim Deutungsmuster dieser eigenartigen neuen Friedensbewegung, die sich von Europas Rechtspopulisten bis zu deutschen Berufsdiskutanten wie Alice Schwarzer (80) und Sahra Wagenknecht (53) erstreckt.
«Ich habe eine andere Haltung als Alain Berset», stellte Co-Präsidentin Mattea Meyer (35) auf SRF unverhohlen deutlich klar. Er teile «weder seine Analyse noch die Schlussfolgerungen», sagte Co-Präsident Cédric Wermuth (37) in der «NZZ» über seinen Genossen in der Landesregierung.
Die Schlüsselfigur an seiner Seite
Das Rencontre zwischen SP-Führung und Magistrat markiert nach einer Serie von Skandalen und Skandälchen einen neuen Höhepunkt der Entfremdung zwischen der linken Volkspartei und ihrem Regierungsmitglied, und nicht nur Bundesbern fragt sich, ob es sich bei Berset, der trotz seiner jungen 50 Jahre schon den Spätherbst seiner politischen Karriere erreicht zu haben scheint, um die Selbstherrlichkeit eines langjährigen Bundesrats, gar um einen Hauch von Cäsarenwahn oder doch eher um die Manövrierkünste eines begnadeten Taktikers handelt.
Wer mehr über Berset wissen will, kommt nicht um Ruth Lüthi (75) herum. Sie gehört zur Politprominenz an der Saane, sass 15 Jahre lang für die SP in der Freiburger Regierung und kandidierte bei den Bundesratswahlen 2002 als Nachfolgerin von Ruth Dreifuss (83).
Ihren Unterstützern war es seinerzeit egal, dass ihr Kanton bereits mit Joseph Deiss (77) in der Landesregierung vertreten war, was viel über den Stolz der Freiburger Sozialdemokratie aussagt. In einem damaligen SRF-Beitrag gab sich die kantonale SP-Präsidentin selbstbewusst. Lüthi sei die Richtige, auch wenn sie eine gebürtige Grenchnerin sei: «Für uns ist sie genug Romande, um uns in Bern zu repräsentieren.»
Die damalige Taktgeberin heisst Solange Berset (71). Zu jenem Zeitpunkt begleitete ihr damals gerade mal 30-jähriger Sohn Alain Kandidatin Lüthi als Wahlkampfstratege durch die Wandelhalle des Bundeshauses. Lüthi war so angetan vom jungen Berset, der ihr bei Hearings und TV-Interviews zur Seite stand, dass sie ihn ein Jahr später für den Ständerat vorschlug, was sich 2003 als goldrichtiger Tipp entpuppen sollte. Dank Bersets sensationeller Wahl gilt Lüthi als Schlüsselfigur in der politischen Laufbahn des heutigen Bundespräsidenten. Er nennt sie ehrfurchtsvoll «ma marraine», auf Deutsch «meine Gotte».
Von SonntagsBlick auf die jüngsten Schlagzeilen über ihren politischen Ziehsohn beziehungsweise Gottenbub angesprochen, spricht die Grande Dame von einer «Kampagne» gegen ihn. «Ich unterstütze ihn sehr, er ist ein loyaler Wegbegleiter.» Er habe als Gesundheitsminister während der Pandemie «hervorragende Arbeit» geleistet: «Dank ihm ist die Schweiz so gut durch die Corona-Zeit gekommen.»
Sie ist überzeugt, dass dies der Grund sei, weshalb er im Visier seiner Gegner steht.«Man bastelt aus allem einen Skandal, weil man ihn weghaben will.» Die Intervention der SP-Spitze habe sie darum «sehr erstaunt», nicht zuletzt deshalb, weil das Thema Rüstungsexport «keine einfache Frage» sei und sie eher zur Linie von Herrn Berset neige; der Bereich humanitäre Hilfe läge «viel mehr in unserer Verantwortung», findet sie.
Er habe «den Durchblick» bewahrt
Lüthi steht damit keineswegs alleine da, im Gegenteil: im Welschland ist der traditionelle Pazifismus in der Linken noch viel tiefer verankert als in der Deutschschweiz, weshalb Berset mit seinen Ukraine-Äusserungen auch den neutralitätspolitischen Graben innerhalb seines politischen Lagers verkörpert, was den Strippenziehern in der Partei nicht allzu sehr ins Drehbuch passt.
Dazu kommt der Zusammenhalt der Freiburger. Urs Schwaller (70) sass von 2004 bis 2011 mit Berset im Ständerat. Der CVP-Politiker lehnt es partout ab, «Persönliches und Politisches» zu ihm zu sagen, mit dem er auch als Bundesrat «sehr gut zusammengearbeitet» habe. Es ist ein sehr aussagekräftiges Schweigen von Schwaller, ein Zeugnis der Treue.
Mit Schwaller zusammen trieb Berset seine Machiavelli-Manier zur Höchstform. Erst waren es Hinterzimmer-Absprachen der normalen Hubraumklasse; so sorgte Berset für linke Unterstützung bei der Ernennung von Christdemokratin Corina Casanova (67) zur Bundeskanzlerin, während im Gegenzug ein Genosse mit CVP-Support Generalsekretär der Bundesversammlung wurde.
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Diese christlichsoziale Achse sollte die Basis für eine der markanteren Aktionen in der jüngeren Schweizer Geschichte werden: die Abwahl von SVP-Tycoon Christoph Blocher (82) aus dem Bundesrat 2007.
Die Kunst des Taktierens und Bündnis-Schmiedens hatte Berset im Freiburger Verfassungsrat gelernt. Dort wurde er im Jahr 2000 mit 28 Jahren hineingewählt, wo er vier Jahre lang mit seinem Freund Christian Levrat (52) wirkte. Im Bundeshaus wurden die zwei zum Dream-Team: Hobbyläufer Berset im Ständerat (Mutter Solage war Schweizer Meisterin im Marathon, Sohn Alain Uni-Meister über 800 Meter) und Schachspieler Levrat als SP-Präsident.
Ruth Lüthi sagt, dass sie schon in seiner Zeit als Wahlkampfstratege an Berset geschätzt habe, dass er in den Geschäften «trotz allem immer den Durchblick» bewahrt habe.
Vier Jahre nach dem Blocher-Coup wurde Berset selber in die Landesregierung gewählt, wo er als Sozialminister nur mässig Glück hatte, so war die Abstimmungsniederlage 2017 zur Reform der AHV ein schwerer Dämpfer. Dafür agierte er immer wieder erfolgreich gegen den freisinnigen Aussenminister Ignazio Cassis (61), der sich glanzlos am Europadossier abarbeitet und zuletzt mit seiner Kopftuchdiplomatie in Iran weltweit für Unverständnis gesorgt hat.
Es folgt die grosse Krise
Schicksalhaft für Berset war das Jahr 2020, als die Pandemie die Schweiz erreichte. Als Gesundheitsminister steuerte er die Nation durch die historische Krise, seine Beliebtheitswerte sprangen nach oben, aus dem einstigen Politnerd mit Brille und Resthaar wurde Borsalino-Berset. Er zeigte sich am liebsten mit Hut in der Pose des besonnenen Landesvaters.
So viel Aufwind ist Gift für jemanden mit einer derart ausgeprägten Eitelkeit. Schon in seinem ersten Präsidialjahr liess er gleich zwei Fotobände über sich erstellen und als Covid-Bekämpfer stellte er sich für ein ganzes Interview-Buch eines «NZZ»-Journalisten zur Verfügung. Berset erhielt immer mehr das Image eines Bourgeois und Bonvivant, er erinnerte zunehmend an den Typus des linken französischen Spitzenpolitikers, der sich in seinen Reden für das Proletariat starkmacht, aber selber lieber im Gourmettempel als in der Arbeiterbeiz verkehrt.
Diese Entwicklung vergrösserte die Kluft zu seiner Partei und ihrem Gewerkschaftsflügel, die vielen Affären waren dabei nicht hilfreich. Die «Weltwoche» enthüllte den Erpressungsversuch einer ehemaligen Geliebten, der Blick deckte auf, wie sich der Gesundheitsminister in seinem Wohnort gegen eine 5G-Antenne starkmacht, während der Bund den Ausbau dieses Netzes vorantreibt, und im Juni 2022 verliess sein Medienchef das Departement, nachdem bekannt geworden war, dass dieser während der Pandemie die Medien mutmasslich mit vertraulichen Informationen aus dem Bundesrat versorgt hatte – namentlich die Spitze des Ringier-Verlags, der auch den SonntagsBlick herausgibt. Ob Berset von den Indiskretionen wusste, untersucht derzeit die Geschäftsprüfungskommission.
Zum Fasnachtssujet wurde Bersets Privatflug in den französischen Luftraum, der von Kampfjets beendet worden war. Seinen Genossen mit ihrer Umweltpolitik erwies er damit einen Bärendienst.
Ist Meyers und Wermuths öffentliche Korrektur von Bersets Waffenvotum Anfang Woche nun ein Signal für den baldigen Abgang des schillernden Magistraten mit dem Salonsozialisten-Anstrich?
Im Umfeld seines Departements wiegelt man ab; der Chef habe in seinen Interviews doch bloss die Haltung des Bundesrats widergespiegelt, der sich aufgrund des Neutralitätsrechts gegen indirekte Rüstungshilfe ausspricht. Trotzdem wetzen die Gegner die Messer. Für die Grünliberalen ist die SP im Bundesrat sowieso übervertreten, und bei den Grünen kursiert schon die Frage, wer denn das Zeug zum Kandidaten habe. Parteichef Balthasar Glättli (51) jedenfalls glaubt niemand mehr, wenn er seine Ambitionen abstreitet. Er rede bei seinen Auftritten auffällig oft französisch, um staatsmännisch zu wirken, heisst es.
Ruth Lüthi will nicht über einen möglichen Abtritt spekulieren. Noch vor einem halben Jahr hätte sie das völlig ausgeschlossen, sagt sie. «Aber ich könnte es nachvollziehen, wenn er Ende Jahr sagen würde: ‹Ich habe meine Arbeit getan.›»