Am Montag besuchte der Nestlé-Chef bei strahlendem Sommerwetter einen malerischen Bauernhof in Flaach ZH. Der Wydhof von Madeleine und Ernst Bachmann ist einer von Nestlés weltweit Hunderttausenden von Zulieferern. Sie spielen eine entscheidende Rolle, wenn die Nahrungsproduktion klimafreundlich werden soll. Mark Schneider (56) wollte sich vor Ort ein Bild machen – und schlug vor, das grosse Gespräch mit Blick hier gleich im Grünen zu führen.
Blick: Herr Schneider, Sie besuchen hier einen Bauernhof im Zürcher Weinland. Was haben Sie von den Bauern gelernt?
Mark Schneider: Ich habe hier mit den Bauern, IP Suisse und mit unseren Partnern Coop und ETH Wege zur Klimaneutralität in der Landwirtschaft besprochen. Was ich gelernt habe: Es braucht individuelle Lösungen, je nach Ort und was angebaut wird.
Kürzlich wurden Sie betreffend Klimaschutz emotional wie selten. Sie sagten, wichtiger als Pläne seien sofortige Taten.
Der Klimawandel ist das grosse Problem unserer Zeit. Unsere Nachkommen werden uns daran messen, ob wir genug getan haben, das Problem in den Griff zu bekommen oder nicht.
Macht die Menschheit genug?
Nein, sie ist vom Pfad abgekommen, die Ziele vom Pariser Abkommen für 2050 zu erreichen. Es geht nun darum, auf diesen Pfad zurückzukehren.
Als Nestlé-Chef haben Sie viel Einfluss. Was tun Sie?
Wir wollen mit gutem Beispiel vorangehen. Nestlé stösst bereits heute jedes Jahr weniger Treibhausgase aus, obwohl wir stark wachsen.
Sie haben 150'000 Zulieferer weltweit – ein Ding der Unmöglichkeit, alle zu kontrollieren.
Wir beschäftigen weltweit Hunderte Agrarökonomen, die vor Ort technische Hilfe leisten und zur Einhaltung der Richtlinien beitragen. Bei mehreren 100'000 Landwirten wird das Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Deshalb ist unser Klimaplan auf das Jahr 2050 ausgerichtet: Bis dann will Nestlé netto-null Emissionen erreichen. Die ersten Anstrengungen, die jetzt bereits zu einer Verringerung geführt haben, sind bei uns selber geschehen: in Produktion, Logistik, Verwaltung. Jahr für Jahr werden wir mehr Beiträge von unseren Lieferanten brauchen, um unsere Ziele zu erreichen.
Noch vor ein paar Jahren hatte Nestlé einen schlechten Ruf, galt als rücksichtslos und profitorientiert. Wie stark engagieren Sie sich fürs Klima, um das Image zu verbessern?
Klimaschutz und Image lassen sich aufgrund der enormen Bedeutung des Themas nicht voneinander trennen. Gleichzeitig sind wir nach wie vor marktwirtschaftlich orientiert, und ich bin überzeugt: Um das Klimaproblem weltweit in den Griff bekommen, braucht es Lösungen, die auch auf dem freien Markt funktionierten und die Konsumenten überzeugen. Kommerzielle Lösungen sind nachhaltiger.
Nestlé setzt stark auf gesunde Nahrung und ist führend bei Fleischersatz aus Gemüseproteinen. Wollen Sie den Menschen auch das Steak und die Schokolade vermiesen?
Überhaupt nicht. Auch ich geniesse beides sehr gern. Im Westen gibt es jedoch einen Überkonsum an tierischen Proteinen. Massvolle und flexible Ernährung steigert die Volksgesundheit – und verringert den ökologischen Fussabdruck.
Was muss dazu auf die Teller?
Eine grössere Vielfalt. Bei uns weniger Fleisch – und mehr Fleisch in Ländern, wo die Menschen noch immer an Proteinmangel leiden. Deswegen ist es mir wichtig, nicht einseitig die Fleisch- oder Milchwirtschaft zu verunglimpfen.
Wen sprechen Sie mit Produkten an, die aussehen und schmecken wie Burger, aber aus Gemüseproteinen bestehen?
Konsumenten, die ein- oder zweimal pro Woche das liebgewonnene Fleisch durch ein pflanzenbasiertes Produkt ersetzen wollen. Also nicht Vegetarier oder Veganer – für die gibt es bereits viele Alternativen. Es geht jetzt darum, Konsumenten anzusprechen, die aus Gründen des Tierschutzes, der Gesundheit oder Umweltverträglichkeit eine Alternative suchen, die gleich schmeckt wie Fleisch.
Merken Sie selber geschmacklich einen Unterschied?
Bei einem Hamburger zwischen zwei Brotscheiben und Ketchup oder bei einem Würstchen mit Senf ist der Unterschied praktisch nicht mehr wahrnehmbar. Beim Verkosten im Labor ohne Zutaten ist noch ein minimaler Unterschied zu erkennen.
Wie wird sich Babynahrung verändern?
Da sehe ich mittelfristig keine Alternative zu Milchprodukten. Milch-Ersatzprodukte sind vor allem für Süsswaren geeignet – Glace zum Beispiel.
Wie viel Zucker werden Sie aus Ihren Produkten nehmen?
Nestlé hat seit den späten Neunzigern systematisch Zucker in den Rezepturen reduziert. Das erfolgt schrittweise, ansonsten hätte der Konsument nicht das gleiche Geschmackserlebnis.
Was machen Sie mit KitKat und Cailler-Schokolade?
Auch dort haben wir Zucker reduziert. Aber klar: In der Schokolade hat es Zucker drin. Hier ist absolute Transparenz auf der Verpackung wichtig, was an Nährstoffen und Zucker enthalten ist. Und strenge Regeln, wenn es um Marketing an Kinder geht.
Wie wichtig wird die personalisierte Nahrung?
Das hat viel Potenzial, etwa bei unseren Vitaminprodukten: Dort haben wir bereits Geschäftsmodelle in den USA, wo die Kunden einen Fragebogen ausfüllen und zum Teil ärztliche Vorgaben einreichen. Dann erhalten sie individuell ihre Vitaminergänzungsprodukte.
Wird sich die Menschheit künftig wirklich so ernähren?
Ich bin sicher, dass sich an der Spitze des Marktes mehr und mehr Konsumenten dafür entscheiden, weil das Gesundheitsbewusstsein weltweit zugenommen hat.
Die Welt ächzt unter Lieferengpässen. Wie ist Nestlé betroffen?
Auch wir beobachten die grossen Lieferengpässe mit Sorge. In vielen Märkten wie USA oder England kommt es zu Arbeitskräftemangel, da sich viele der Mitarbeitenden nach der Covid-Krise umorientiert haben. So war es zum Teil gar nicht mehr möglich, Produktionslinien aufrechtzuerhalten. Und jetzt hat sich mit dem Krieg in der Ukraine die Lage nochmals erheblich verschärft.
Was ist am schwierigsten zu beschaffen?
Die Ukraine ist für Weizen und verschiedene Öle ein weltweit wichtiger Lieferant. Wir sind vom Weizen nicht so sehr abhängig, aber stark von pflanzlichen Ölen. Dort versuchen wir, neue Lieferquellen zu erschliessen oder alternative Rezepturen zu finden. Wir hoffen auf ein möglichst baldiges Ende des Krieges, denn erst dann können die landwirtschaftlichen Aktivitäten wieder normal aufgenommen werden.
Wie stark steigen die Preise?
Die Preise für Lebensmittel haben sich leider im vergangenen Jahr deutlich erhöht. Die Kosten für landwirtschaftliche Betriebe sind deutlich gestiegen, diese wurden an uns weitergegeben, von uns an die Detaillisten und zum Verbraucher. Ein Rückgang ist nicht in Sicht, ich gehe aber heute davon aus, dass sich die Preise im 2023 immerhin stabilisieren werden.
Höhere Lebensmittelpreise treffen einmal mehr die Ärmsten der Armen am härtesten.
Es ist leider richtig, dass durch Covid und den Krieg weltweit Hunderte von Millionen Menschen wieder in eine Armut zurückgerutscht sind, der sie gerade erst entkommen waren. Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir die Preise verantwortungsvoll anpassen werden. Wir haben gerade in den Schwellenländern eine Aufgabe für die Versorgung der Bevölkerung und dazu gehört eben auch, dass die Produkte bezahlbar bleiben. Wir profitieren nicht von der Krise, im Gegenteil: Unsere Margen sind ebenfalls geschrumpft.
Mark Schneider (56) ist seit 2017 CEO von Nestlé. Der weltgrösste Nahrungsmittelhersteller mit Sitz in Vevey am Genfersee beschäftigt global über 276'000 Angestellte und erzielt einen Jahresumsatz von 87 Milliarden Franken. Der deutsch-amerikanische Spitzenmanager trimmt den Konzern im Eiltempo auf mehr Nachhaltigkeit. Schneider leitete während 13 Jahren den Gesundheitskonzern Fresenius. Er ist der erste Chef seit 1922, den Nestlé extern rekrutierte. Das Studium der Betriebswirtschaft an der Uni St. Gallen schloss er mit einem Doktorat ab. Er ist verheiratet und ist Vater einer kleinen Tochter.
Mark Schneider (56) ist seit 2017 CEO von Nestlé. Der weltgrösste Nahrungsmittelhersteller mit Sitz in Vevey am Genfersee beschäftigt global über 276'000 Angestellte und erzielt einen Jahresumsatz von 87 Milliarden Franken. Der deutsch-amerikanische Spitzenmanager trimmt den Konzern im Eiltempo auf mehr Nachhaltigkeit. Schneider leitete während 13 Jahren den Gesundheitskonzern Fresenius. Er ist der erste Chef seit 1922, den Nestlé extern rekrutierte. Das Studium der Betriebswirtschaft an der Uni St. Gallen schloss er mit einem Doktorat ab. Er ist verheiratet und ist Vater einer kleinen Tochter.
In Russland beschäftigen sie 7000 Mitarbeitende. Wie ist die Lage dort?
Wir haben das Sortiment kurz nach Kriegsausbruch auf die wesentlichen Produkte der Ernährung reduziert, etwa Babynahrung und medizinische Ernährung. Bei diesen Produkten stehen wir zu unserer Verantwortung gegenüber der russischen Bevölkerung und dem Recht auf Zugang zu Nahrung. Trotzdem allem zahlen wir allen unseren Beschäftigten weiterhin den Lohn.
Der ukrainische Präsident Selenski musste Sie zuerst persönlich aufrufen, Ihr Engagement in Russland runterzufahren. Wieso haben Sie gezögert?
Bei den Luxusprodukten haben wir sehr schnell reagiert, haben beispielsweise sofort alle Nespresso-Boutiquen geschlossen. Die Meinungsverschiedenheit betrifft unsere wesentlichen Produkte, und da halten wir am Grundrecht auf Ernährung fest und daran, dass die Bevölkerung weiterhin versorgt werden sollte. Kriege sollten nicht auf dem Rücken der Schwächsten in der Bevölkerung ausgetragen werden.
Und in der Ukraine: Können Sie dort noch produzieren?
Wir sind eines der ganz wenigen westlichen Unternehmen, das weiter in der Ukraine produziert. Vor Ausbruch des Kriegs hatten wir drei Werke dort. Eines ist in einer Kriegszone und konnte nicht weiterbetrieben werden. Zwei sind weiter in Betrieb, unter strengen Sicherheitsmassnahmen und mit grössten Anstrengungen unserer Mitarbeitenden dort, vor denen ich meinen Hut ziehe.
Wie kann eine Fabrik mitten im Krieg funktionieren?
In den Kellern der Fabriken haben wir Schutzräume eingerichtet. Es sind nur so viele Personen in der Produktion zugelassen, die auch gleichzeitig in einem Schutzraum Zugang finden. Die Logistik ist ebenfalls sehr erschwert: Wir haben mehrere 100 Tonnen Lebensmittel ins Land gebracht, unter erheblichen Sicherheitsrisiken.
Bleiben Sie unter allen Umständen in der Ukraine?
Solange sich dies unter Sicherheitsaspekten vertreten lässt, werden wir für die Bevölkerung da sein.
Kommen wir in die Schweiz: Hier werden die Nespresso-Kapseln für die ganze Welt hergestellt. Warum ausgerechnet hier?
Ein Blick in diese drei Fabriken beantwortet die Frage: absolutes Hightech, verbunden mit Schweizer Uhrmacher-Präzision. Wir haben mit diesen drei Werken sehr gute Erfahrungen gemacht. Durch die hohe Automatisierung bleiben die Kosten vertretbar.
Heute sind es drei Nespresso-Fabriken, wann kommt die vierte?
Das wird man sehen. Zunächst bauen wird die bestehenden aus: Es ist sehr viel günstiger, weitere Linien hinzuzufügen statt eine neue Fabrik aufzubauen.
Was ist mit Cailler, einem Nischenprodukt? Werden Sie die Schokoladenfabrik eines Tages verkaufen?
Nestlé war einer der ersten Anbieter von Schokolade. Wir stehen zu unserem Schokoladengeschäft und möchten es auch in Zukunft ausbauen.
Ihr Konzernsitz liegt am Genfersee. Wie stark macht Ihnen die zunehmend wirtschaftskritische Haltung der Bevölkerung Sorgen?
Die Schweiz ist eine hervorragende Umgebung für multinationale Unternehmen und wir stehen zur Schweiz. Es ist kein Zufall, dass es in Europa keine vergleichbare Konzentration von weltweit erfolgreichen Unternehmen gibt. Auch wenn es die eine oder andere eher wirtschaftskritische Tendenz gibt, vergleicht sich das immer noch ausserordentlich positiv mit dem Zustand, den wir in anderen Ländern vorfinden. Wir glauben an die Weisheit des schweizerischen Stimmvolks.
Bei Nestlé arbeiten fast 300'000 Menschen, Sie sind in 186 Ländern präsent und betreiben 400 Fabriken. Wie haben Sie einen solchen Riesenbetrieb im Griff?
Indem ich nicht versuche, jeden Nagel selbst einzuschlagen. Der Erfolg eines grossen Unternehmens ist eine Mannschaftsleistung. Ein gutes Beispiel war der Ausbruch der Covid-Krise vor zwei Jahren, als sich innerhalb von wenigen Wochen im Unternehmen weltweit an allen Standorten sehr viel ändern musste. Das liess sich nicht zentral von Vevey aus managen.