Vor zwei Monaten ist Putin in die Ukraine einmarschiert. Er glaubte an einen Homerun, die Ukrainer an die Freiheit. Und weil Arroganz ein schlechter Ratgeber ist, wurde die russische Armee vom erbitterten Widerstand überrumpelt.
Die strategische Unterlegenheit kompensieren Putins Männer mit Brutalität. Sie plündern, vergewaltigen, morden. Die Frage, wie weit Putin geht, ist spätestens mit dem Massaker von Butscha beantwortet. In Mariupol zeigen Satellitenbilder ein Massengrab mit 9000 Toten. Es gibt für den russischen Präsidenten keine roten Linien, keinen Anstand.
Mariupol wird spätestens Anfang Woche fallen. Die verbleibenden Verteidiger und bis zu 2000 Zivilisten im Asow-Stahlwerk sind, Stand Samstag, wieder unter Beschuss, zuvor wurden sie blockiert und ausgehungert.
Mariupols Fall macht weitere Truppen frei für Putins Offensive im Osten. Drei Regionen stehen im Zentrum: Slowjansk und die Küstenstädte Cherson und Odessa. Ein Verlust des Hafens von Odessa wäre für die Ukrainer verheerend, die Stadt dürfte für die Ukrainer aufgrund der Lage und Grösse aber auch am besten zu verteidigen sein.
Über Slowjansk wollen die Russen die selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk erreichen. Die Ukrainer sehen das Kräfteverhältnis hierbei auf ihrer Seite. Unabhängig einschätzen lässt sich der Zustand der ukrainischen Streitkräfte von zivilen Analysten und Journalisten allerdings nicht.
Cherson ist bereits besetzt. Doch die Ukrainer glauben, dass die russischen Truppen das Gebiet nicht halten können. Für den weiteren Kriegsverlauf scheint die Frage nach Waffenlieferungen entscheidend. «Es ist eine Linie von 1000 Kilometern und sie haben nur 90'000 Soldaten. Es ist unwirklich, es ist keine Verteidigung, es ist eine sehr feine Linie. Wenn wir die Waffen bekommen, werden wir angreifen und vorrücken», sagte Olexij Arestowitsch, ein Militärberater Selenskis, in einem Interview.
Die geplante ukrainische Offensive birgt ein Risiko. Die Verluste könnten auf beiden Seiten massiv sein. Russland könnte auch zu taktischen Atomwaffen greifen, wenn es militärisch nicht weiterkommt.
Arestowitsch, der den Krieg bislang mit erstaunlicher Präzision vorhergesehen und eingeschätzt hat, rechnet damit, dass die aktuelle Kriegsphase bis zum 9. Mai (Putins Zieltag für seinen geplanten Sieg) andauern wird: «Dann werden sie erschöpft sein und die Offensive wird zum Stillstand kommen».
Dann könnte es eine Art Waffenstillstand geben. Und Friedensgespräche. Im Januar schrieb ich an dieser Stelle bereits, wie Putin schon allein mit seinen Drohgebärden die Verhandlungslinien verschoben hat.
Die Gefahr ist, dass eine mögliche Vereinbarung missbraucht wird, um Selenski zu unmöglichen Konzessionen zu zwingen – oder der russischen Armee lediglich Zeit verschafft, um sich für den nächsten Angriff zu erholen. Das darf nicht passieren.