Editorial über Meinungsfreiheit in Kriegszeiten
Ein Schweizer Geheimdienstler auf Putins Mission

Kreml-Freunde können sich hierzulande austoben. Dem Staat sind die Hände gebunden – was nicht nur schlecht ist. Die freie Rede ist das Tafelsilber der aufgeklärten Welt.
Publiziert: 24.04.2022 um 00:41 Uhr
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Aktualisiert: 24.04.2022 um 09:14 Uhr
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Reiches kulturelles Erbe, brutale Kriegsmaschinerie: der Rote Platz im Herzen Moskaus.
Foto: Dmitrij Tchistoprudov
Reza Rafi

Jacques Baud ist seit Jahren ein gern gesehener Experte, wenn es um Spione, Spannungen und Sicherheitspolitik geht. Von «20 Minuten» bis zum Schweizer Fernsehen gibt der 67-Jährige regelmässig sein Fachwissen zum Besten, ob es um die Geheimarmee P-26 geht, um Islamismus oder den Besuch des US-Präsidenten. Zudem verfasst Baud Bücher über Terror- und Kriegsthemen.

Was dem Westschweizer vor allem Gewicht verleiht, ist sein stets erwähnter Dienstrang als ehemaliger Oberst der Schweizer Armee und Ex-Mitarbeiter des Strategischen Nachrichtendienstes.

Seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs kursieren von ihm in den sozialen Medien, in einschlägigen Foren und Telegram-Kanälen auffällig viele Beiträge und Interviews. Sie sind – vorsichtig ausgedrückt – von zweifelhafter Natur. So stellt Baud über den Aggressor fest: «In unseren Medien wird es so dargestellt, dass die Russen alles zerstören, aber das stimmt offensichtlich nicht.» Zu ihrem Ziel meint er, es sei «sicher nicht gegen die ukrainische Bevölkerung gerichtet». Zudem habe die Regierung in Kiew mit angeblich massiven Angriffen auf die «Volksrepubliken» Luhansk und Donezk im Vorfeld des 24. Februars den russischen Überfall selber provoziert.

Kurzum: Baud argumentiert streckenweise ziemlich genau auf Linie des Massenmörders Wladimir Putin. Mit dem Siegel des helvetischen Sicherheitsapparats.

Der Autor liess eine SonntagsBlick-Anfrage unbeantwortet. Viola Amherds Verteidigungsdepartement allerdings reagiert verärgert: «Die Darstellungen und Aussagen dieser Person entsprechen in keiner Art und Weise der Haltung des VBS, seiner Verwaltungseinheiten und der Armee», teilt die Kommunikationsabteilung mit.

Entscheidend ist der nächste Abschnitt der Antwort: «Es steht jeder Schweizerin und jedem Schweizer frei, seine eigene Meinung zu äussern und eine frühere Arbeitsbeziehung oder Einteilung in der Miliz-Armee zu erwähnen.»

Mit anderen Worten: Dem Staat sind die Hände gebunden. Und der Sprecher erwähnt die grösste Errungenschaft der offenen Demokratie: die Meinungsfreiheit.

Hier können die Leute den grössten Quark, aber auch unangenehmste Wahrheiten äussern, ohne ins Gefängnis zu wandern. Es gilt der Wettbewerb der Ideen. Alle sind zur Party eingeladen, Aktivisten, Schwurbler, Politiker, Journalisten und «Journalisten». Nur Rücksicht auf Persönlichkeits- und Wettbewerbsrecht wird gefordert.

Geld verdienen lässt sich auch in Malaysia oder Saudi-Arabien. Stabilität gibt es auch in Vietnam oder Aserbaidschan. Die Möglichkeit zur schrankenlosen individuellen Entfaltung und zu kritischem Denken jedoch sind das Tafelsilber der westlichen Hemisphäre. Das macht die ungeheure Gravitationskraft aus, die so viele Junge aus autoritären Ländern anzieht.

Die Presse- und Meinungsfreiheit markiert die dickste Trennlinie zwischen den liberalen Gesellschaften und dem Rest der Welt. Russland, China und viele islamische Länder mögen sich kulturell und ökonomisch voneinander unterscheiden, eines ist ihnen gemein: die Zensur. Wobei dieser Teil des Globus gerade überhandzunehmen scheint.

Vor diesem Hintergrund lässt sich der Ukraine-Krieg auch so lesen: als Kampf um den Grenzverlauf zwischen Freiheit und Totalitarismus.

Am Samstag einigte sich die Europäische Union in einem historischen Schritt auf ein Gesetz gegen Kriegspropaganda, Lügen und Hetze im Netz. Der «Digital Services Act» wird es Leuten vom Schlage eines Jacques Baud künftig schwerer machen. Das ist ehrenvoll. Und wird doch immer eine Gratwanderung bleiben.

Hierzulande darf jeder einstige Uniformträger gegen die Obrigkeit opponieren, indem er etwa die Sichtweise des Kreml verbreitet. In Putins Reich würde man für so viel Widerspruch gegen die eigene Regierung hinter Schloss und Riegel landen.

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