SonntagsBlick: Wie schätzten Sie die Entwicklung der Ukraine bis Kriegsausbruch ein?
Alfred Heer: Die Ukraine hat in den letzten Jahren deutliche Fortschritte hin zu einer Demokratie gezeigt. Auch wenn die Korruption nach wie vor ein grosses Problem darstellt, habe ich feststellen können, dass darüber in allen Institutionen offen gesprochen wird und Reformen eingeleitet wurden. Allerdings kann eine tiefgreifende Korruption nicht von einem Tag auf den anderen ausgemerzt werden. Immerhin gab es in der Ukraine demokratisch faire und offene Wahlen, bei denen Wolodimir Selenski den amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko besiegt hat.
Sind Sie überrascht, wie kämpferisch Selenski agiert?
Selenski war vor dem Krieg in einer schwachen Position. Das Land war zerstritten. Gegen Poroschenko waren Haftbefehle wegen Hochverrats hängig. Verschiedene Oligarchen im Hintergrund wollten Selenski über das Parlament absetzen und Neuwahlen erzwingen. Der Angriffskrieg der Russen hat nun dazu geführt, dass die Ukrainer die Reihen geschlossen haben. Das war wohl die entscheidende Fehleinschätzung des Kremls: Man meinte, dass die Ukraine infolge dieser Zerstrittenheit ein einfaches Opfer sein würde.
Wieso ist die Ukraine für Wladimir Putin derart wichtig?
Historisch ist der Kiew-Rus die Wiege der russischen Nation. Die Krim und Odessa wurden durch die Russen im 18. Jahrhundert von den Osmanen erobert. Im Zweiten Weltkrieg hat die Rote Armee Zehntausende Soldaten alleine in der Schlacht um Kiew gegen die deutsche Wehrmacht verloren. Sewastopol auf der Krim ist für Russland ein strategischer Hafen. Aus diesem Verständnis erachtet Putin die Ukraine historisch als russisches Territorium.
Immer wieder gibt es Kritik an der Nato. Hätte der Westen den Krieg tatsächlich verhindern können?
Schwer zu sagen. Wenn man die Ukraine als Hinterhof der Russen betrachten würde, wohl schon. Aber das Selbstbestimmungsrecht gilt auch für die Ukrainer. Bei meinen Besuchen habe ich deutlich gemerkt, dass diese nicht mehr vom Kreml unterdrückt werden möchten. Sogar viele Russisch sprechende Ukrainer wollen eine Zusammenarbeit mit dem Westen, da sie erkennen, dass damit Demokratie, Meinungsfreiheit und Wohlstand besser gewährleistet sind. Aber Putin hat wohl stets eine klare Strategie verfolgt. Er konnte seine Strategie langfristig planen, während Regierungen im Westen jeweils wechseln.
Gerade Ihre Partei macht derzeit mit «Putin-Verstehern» von sich reden.
Putin zu verstehen, wäre wirklich dringend nötig. Dann hätte man verstanden, dass seine Drohungen nicht leere Worthülsen sind. Man hätte sich besser auf eine Flüchtlingswelle vorbereiten können. Aber der Bundesrat hatte kein Szenario für den Fall in der Schublade, dass Putin tatsächlich einmarschiert. Die überhastete Übernahme von nutzlosen und willkürlichen Sanktionen der EU gegen russische Unternehmen spricht Bände. Dass dabei zum Beispiel gezielt russische Oligarchen von der EU ausgenommen wurden, die in gewissen Ländern der EU investieren, hat der Bundesrat bis heute nicht bemerkt.
Wobei die Mehrheit die Sanktionen anders beurteilt als Sie und Ihre Partei. Werden Sie als Berichterstatter weitermachen, wenn es die Situation wieder zulässt?
Als Berichterstatter wäre ich für die demokratische und rechtsstaatliche Entwicklung im Dialog mit den ukrainischen Akteuren zuständig. Die haben heute verständlicherweise andere Sorgen. Wie ich den Kreml einschätze, wird der Krieg so weit geführt, bis grosse Teile der Ostukraine und die Schwarzmeerküste von der Russischen Föderation kontrolliert werden. Putin hat nichts mehr zu verlieren. Die Ukrainer kämpfen um ihr Überleben. An diesem Wochenende ist das orthodoxe Osterfest – ich gebe die Hoffnung trotz allem nicht auf, dass die Vernunft einkehren möge und der Krieg bald ein Ende findet.
Werden Sie die Ukraine wieder besuchen?
Es ist vorgesehen, dass ich als Berichterstatter für die Parlamentarische Versammlung des Europarates in die Ukraine reisen werde. Allerdings braucht es ein klares Mandat und einen klaren Auftrag und keinen Katastrophentourismus. Nächste Woche werde ich anlässlich der Session im Europarat mit meinem Kollegen aus Island über das Vorgehen beraten.
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