Frank A. Meyer – die Kolumne
Frühlingsglaube

Publiziert: 24.04.2022 um 00:52 Uhr
Foto: Antje Berghaeuser
Frank A. Meyer

Auf Seite eins der internationalen Ausgabe verkündet die «Neue Zürcher Zeitung»: «Schweiz ist offen für Nato-Annäherung».

Was für eine Botschaft! An die Welt – und an die Schweiz. Eine Umfrage, publiziert im SonntagsBlick, hat die frisch erwachte Zuneigung der Schweizerinnen und Schweizer zur westlichen Verteidigungsallianz zutage gefördert: 56 Prozent sagen «Ja» oder «eher Ja» zum neuen Bündnis.

In der Tat – eine Sensation! Oder doch nicht?

Wo liegt die Schweiz? Inmitten der Nato, wohlbehütet in deren Schoss, seit es den Verteidigungspakt der westlichen Demokratien gibt. Behütet insbesondere von den USA, die unter ihrem Atomschirm auch die 41285 Quadratkilometer des Alpenlandes beschützen. Die Eidgenossinnen und Eidgenossen waren schon immer Nato-Volk.

Das Baby Schweiz, sicherheitspolitisch gepampert seit je, entdeckt plötzlich die Wirklichkeit – und sagt: «Mama.»

«Annäherung an Mama Nato» – das wäre die erhellende Schlagzeile für das Frühlingserwachen der Nation, deren Fetisch bisher die politische wie militärische Neutralität war. In gefährlicher Stunde hat sich der Fetisch als fahrlässige Lebenslüge entpuppt: Mitten in Europa überfällt ein Verbrecher sein Nachbarland, weil es sich auf den Weg gemacht hat, zum demokratischen Rechtsstaat zu werden.

Der demokratische Rechtsstaat Schweiz erwacht aus seinem Tagtraum von der ewig währenden Neutralität.

Die Nato ist allerdings nicht das einzige Beispiel für somnambule Verdrängung von Wirklichkeit durch die Schweiz. Der europäische Teil der Nato ist nahezu identisch mit der EU – einem politisch und rechtlich geordneten Binnenmarkt, an dessen Welterfolg sich die Schweiz ebenfalls schon immer labt.

An Mamas Busen.

Wie stellt sich die Schweiz die Schweiz vor – ohne NatoSchutz? Wie stellt sich die Schweiz die Schweiz vor – ohne den gemeinsamen Markt der Europäischen Union?


Das Alpenland allein auf weiter Weltenflur im Kampf um seine wirtschaftlichen Interessen, im Ringen mit Gross- und Supermächten? Eine tüchtige Nation – auf sich allein gestellt, ohne Alliierte, ausgeliefert der chinesischen Digital-Diktatur, gezwungen und erpresst, den kommunistischen Räubern Industrie und Forschung preiszugeben. Die Armbrust der Eidgenossen wird China kaum schrecken.

Die Europafahne dagegen schon.

Womöglich ist der helvetische Nato-Schock auch ein EU-Schock und beendet die Quengelei um ein Rahmenabkommen – die Schweiz offen für die EU-Annäherung!

Man kommt nicht umhin, den Tübinger Volksdichter Ludwig Uhland (1787–1862) zu zitieren:

Die linden Lüfte sind erwacht,
Sie säuseln und weben Tag und Nacht,
Sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Nun, armes Herze, sei nicht bang!
Nun muss sich alles, alles wenden.

Auch der Titel von Uhlands Gedicht passt zur historischen Stunde der Schweiz:

«Frühlingsglaube».

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