Vor zwei Wochen traf bei Nationalratspräsidentin Irène Kälin (35) eine brisante Einladung ein. Absender war Ruslan Stefantschuk (46), Präsident der Werchowna Rada, des ukrainischen Parlaments, und damit Kälins Amtskollege in Kiew. Das Angebot ist die Gegeneinladung für den Besuch einer ukrainischen Delegation im Bundeshaus von 2020.
Für die Grüne, die einen rasanten Aufstieg hinter sich hat, hat es die Post aus dem Osten in sich. Noch nie seit Kriegsausbruch waren Schweizer Politiker auf ukrainischem Boden. Der Trip wäre historisch. Offene Fragen gibt es allerdings: Geht sie mit dem Besuch ein persönliches Sicherheitsrisiko ein? Würde ihr eine Absage als Feigheit vorgeworfen? Wird ihr die Visite als PR-Stunt auf Kosten der bedrohten Bevölkerung vorgehalten? Füttert Kälin die von der SVP angestossene Neutralitätsdebatte?
Klar ist: Für die Führung der angegriffenen Nation sind solche Termine ein Teil der politischen Öffentlichkeitsarbeit. Es ist von eminentem Interesse für die Ukraine, in den westlichen Medien präsent zu sein – und zu bleiben.
Selenski weiss um die Kraft der Bilder
An Ostern verschickte Kälin ein E-Mail mit dem Vermerk «vertraulich» an ein halbes Dutzend Parlamentskollegen: die Einladung, sie zu begleiten. Das Schreiben liegt SonntagsBlick vor. In den kommenden Tagen soll es losgehen. Die genauen Reisedaten werden hier aus Sicherheitsgründen nicht genannt. Zu den Adressaten gehören unter anderen GLP-Nationalrat Martin Bäumle (57), EVP-Kollege Nik Gugger (51) und die Grüne Christine Badertscher (40).
Auf dem Programm steht neben dem Besuch der Hauptstadt Kiew auch ein Augenschein im Vorort Butscha, wo die russische Armee Dutzende ukrainische Zivilisten massakrierte.
Ob die Reise tatsächlich stattfinden wird, hängt von der Sicherheitslage ab. Zum Wochenbeginn griffen Putins Truppen Kiew erneut an. In diesen Zeiten scheint alles denkbar; rollende Planung ist angesagt.
Sicher hätte Kälin mit ihrer Entourage die nationale Aufmerksamkeit ganz für sich. Bundespräsident Ignazio Cassis (61) fuhr vor zwei Wochen an die polnisch-ukrainische Grenze und besuchte ein Flüchtlingslager. Ein Handschlag mit Wolodimir Selenski (44) in der Hauptstadt hingegen fand nicht statt. Der ukrainische Präsident weiss um die Kraft der Bilder, er empfängt nur Regierungen, die ihm Konkretes zu bieten haben.
Problem der Instrumentalisierung
Für heute Sonntag hat er überraschend den Besuch von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin (68) und Aussenminister Antony Blinken (60) angekündigt. Amerika ist der wichtigste militärische Verbündete.
Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (63) stellte bei ihrer Aufwartung ein EU-Beitrittsverfahren im Eiltempo in Aussicht. Der britische Premier Boris Johnson (57) sowie die Staatsspitzen von Tschechien und Polen kündigten Waffenlieferungen an.
So etwas liegt für die Schweiz aus neutralitätsrechtlichen Gründen nicht drin. Überdies würde sich das Problem der möglichen Instrumentalisierung stellen: Nützt man die Zwangslage der Ukrainer für gute Presse in der Heimat aus? Oder umgekehrt – lässt man sich von einer Kriegspartei einspannen?
Vor diesen Fragen steht auch Nationalratspräsidentin Kälin, wenn nicht auf Regierungs-, so doch auf parlamentarischer Ebene.
Hoher symbolischer Wert
Sie und die weiteren Delegationsmitglieder halten sich auf Anfrage bedeckt: «Kein Kommentar», heisst es. Nur hinter vorgehaltener Hand bestätigt man die Reisepläne, will den Ball jedoch flachhalten. Man verweist auf Sicherheitsüberlegungen und will sich erst äussern, wenn es so weit ist.
Nach Informationen von SonntagsBlick sind Parlamentarier anderer westlicher Staaten ebenfalls von Kiew eingeladen worden.
Dass die Schweiz mit auf der Liste steht, hat einen hohen symbolischen Wert: Die Alpenrepublik gilt für die Kiewer Diplomatie als relevant. Man erhofft sich von der Beziehung mit Bern einen Vorteil – die Ukrainer wissen um die Bedeutung der Schweiz für den russischen Rohstoffhandel und dürften für härtere Sanktionen weibeln.
Westliche Politiker genau im Blick
Bei seiner Rede vom 19. März, die auf dem Bundesplatz übertragen wurde, attackierte Selenski gezielt Schweizer Firmen, die noch mit Russland geschäften.
Dass man vom Dnepr aus die westlichen Politiker sehr genau im Blick hat, offenbarte auch der Eklat um Frank-Walter Steinmeier (66). Der deutsche Bundespräsident war in Kiew unerwünscht. Grund: Der SPD-Politiker, jahrelang Aussenminister seines Landes, hatte sich in der Vergangenheit wiederholt für das von Moskau bis fast zur Inbetriebnahme vorangetriebene Pipelineprojekt Nord Stream 2 eingesetzt und gilt nicht nur für die Ukrainer als Russland-freundlich.
Derlei Ungemach wird den Schweizer Besuchern nicht widerfahren. Welchen Nutzen die Reise jedoch tatsächlich bringt, sollte sie denn stattfinden, muss sich erst noch weisen.