Aufstand gegen das Regime
Das Volk hat die Kontrolle satt

Viele Chinesinnen und Chinesen halten die endlosen Lockdowns nicht mehr aus. Ihre Proteste gegen Dauer-Machthaber Xi Jinping verknüpfen sie mit der Forderung nach Demokratie, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit.
Publiziert: 04.12.2022 um 10:19 Uhr
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Aktualisiert: 04.12.2022 um 14:14 Uhr
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Die Fassade bröckelt: Was vor einem Monat auf dem 20. Parteikongress aussah wie Macht in Hülle und Fülle, ...
Foto: imago/Xinhua
Alexander Görlach*

Peking wird nervös: Die Proteste, derzeit nur einige Zehntausend Teilnehmer stark, könnten sich ausweiten. Die chinesische Regierung beauftragte Spezialkräfte, das Internet noch stärker zu reglementieren. Ob das genügt, den Widerstand zu brechen, ist fraglich: Die Bewegung gegen das Corona-Regime hat keinen Anführer. Und die schiere Anzahl von Videos und Fotoserien über Aktionen mit dem leeren weissen Blatt als Symbol der Unterdrückung machen es schwierig, sie vom Netz zu tilgen. Das Reich von Staatspräsident Xi Jinping mag noch immer wirken wie eine uneinnehmbare Festung, aber chinesische Fachleute, die anonym bleiben wollen, sagten der «New York Times», die Kommunistische Partei habe weder genug Personal noch die technische Ausrüstung, um der Situation Herr zu werden.

Zwar ist es den Sicherheitskräften gelungen, Protestierende per Gesichtserkennung ausfindig zu machen und persönlich einzuschüchtern – bei weitem nicht alle trugen Masken. Aber viele fühlen sich im Recht, Meinungs- und Pressefreiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu fordern. Zudem bringen viele, die bislang mit der Diktatur sympathisiert haben, Verständnis für die Demonstrationen auf und unterstützen ihre Ziele. Auf Strassen und Plätzen ertönen seit Tagen Rufe wie «China braucht keinen Kaiser», «Wir wollen wählen, wir wollen keinen Führer» oder «Wir wollen Bürger sein, nicht Sklaven». Seit dem blutigen Ende der Demokratiebewegung 1989 wurde die Diktatur der KP Chinas nicht mehr so entschieden herausgefordert. Dabei wehren sich die Menschen gegen weit mehr als lediglich die restriktive Corona-Politik.

Nicht-Regierungsorganisationen zählten seit Mitte Mai landesweit bis zu 735 Aufmärsche oder Kundgebungen – die Menschen protestierten gegen Banken und Immobilienentwickler, die ihre Ersparnisse verzockt haben, gegen miserable Arbeitsbedingungen oder weil sie ihre Löhne nicht bekommen. Angesichts einer Jugendarbeitslosigkeit von 20 Prozent ist auch Chinas Nachwuchs wütend auf Machthaber Xi. Was auf dem 20. Parteikongress vor einem Monat aussah, als habe der 69-Jährige alles unter Kontrolle, entpuppt sich nun als Maskerade und Propaganda. Das Volk hat Kontrolle und Bevormundung durch die Staatspartei satt.

Dabei demonstrieren die Menschen nicht in erster Linie für ein Mehrparteiensystem oder freie und faire Wahlen. Viele glauben wohl auch, dass sich die Volksrepublik innerhalb der Ordnung wandeln könnte, unter der sie gelebt haben, seit sie denken können. Zugleich dringt jedoch ins allgemeine Bewusstsein, dass es Machthaber Xi ist, der ihnen ihre wenigen Freiheiten genommen hat. Auf dem Parteikongress, der ihn ein drittes Mal zum Präsidenten ausrief, betonte Xi denn auch, dass «Sicherheit» in seiner Politik die Hauptrolle spielen werde. In seiner Rede verwendete er diesen Begriff nicht weniger als 91 Mal. Sein Ziel ist es, den Sicherheitsapparat weiter aufzustocken und die Bevölkerung des Riesenreichs verstärkt zu indoktrinieren: Sie sollen gar nicht erst auf die Idee kommen, ihn und die Partei zu kritisieren, die er sich gefügig gemacht hat.

Doch diese Rechnung geht nicht auf. Unter anderem, weil die Menschen in China das zentral gesteuerte Internet nicht zwingend brauchen, um sich zu organisieren. Denn derzeit erleben sie alle dasselbe: Noch immer sind rund 400 Millionen eingesperrt, sie sind des ständigen Testens müde, nicht einmal die Bilder der Fussballweltmeisterschaft in Katar durften sie bisher ungefiltert sehen: Die Führung liess die Spielberichte schneiden – auf den Bildschirmen war nicht zu erkennen, dass man auf den Zuschauerrängen in Katar keine Masken mehr tragen muss.

Das hat sich geändert, auch das chinesische Fernsehen zeigt nun unmaskierte Fussballfans. Eine leichte Veränderung der Covid-Restriktionen soll zudem dafür sorgen, dass die Proteste seltener werden. Mit der gleichen Absicht wurden an vielen Universitäten die Ferien zum Neujahrsfest vorverlegt. Doch jede dieser Massnahmen birgt ein Risiko für Xi, der seine Politik zum Massstab allen Handelns erhoben und die «Null Covid»-Politik als alternativlos darstellt. Sollten die Proteste dazu führen, dass die Regierung auch nur minimal zurückweicht, könnte der Führer sein Gesicht verlieren – und einen Präzedenzfall für die nächste Welle der Unzufriedenheit schaffen. Angesichts der Standards, die sonst in China gelten, käme das fast schon einem Prozess demokratischer Willensbildung nahe. Und so etwas passt natürlich nicht in Xis Konzept.

In der Partei erscheinen die Reihen bislang fest geschlossen. Funktionäre, die gerade erst im Oktober durch Loyalität zu Xi in neue Ämter gekommen sind, dürften alles daran setzen, dass seine Macht nicht angezweifelt wird und ihr grosser Gönner düpiert dasteht. Kurz vor dem Beginn der Jubelveranstaltung im Oktober entfaltete ein mutiger Demonstrant an einer Brücke in Peking ein Spruchband, auf dem er den Rückzug von Xi aus allen Ämtern forderte. Die mutige Tat des «Bridge Man» wurde mit Hupen gefeiert und im Internet beklatscht. Sechs Wochen später ist der Einmann-Protest auf mehrere Zehntausend Menschen angewachsen. In wenigen Wochen könnten es Hunderttausende, in Monaten Millionen sein, die es dem Mann auf der Brücke gleichtun.

Auch grosse Bewegungen fangen manchmal klein an. Die Menschen in der Volksrepublik haben den Geschmack der Freiheit jedenfalls bereits gekostet.

*Alexander Görlach ist Senior Fellow am Carnegie Council for Ethics in International Affairs in New York. Vor kurzem erschien sein Buch «Alarmstufe Rot: Warum Pekings aggressive Aussenpolitik im Westpazifik in einen globalen Krieg führt».

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