Freitag, 13. März 2020: Die Zeichen stehen auf Unglück, doch der Basler Schriftsteller und Journalist Benjamin von Wyl (30) lässt den Kopf nicht hängen. Er sitzt mit seinem Schriftstellerkollegen und besten Freund Daniel «Kissi» Kissling (33) im Oltener Kulturlokal Coq d'Or, und sie brüten gemeinsam über Wege aus der sich anbahnenden Krise, während in Bern der Bundesrat zu einer ausserordentlichen Sitzung zusammenkommt, um die Massnahmen gegen das Coronavirus zu verschärfen.
Der Lokalbetreiber und der Zeitungsschreiber: Gastronom Kissling weiss, dass er seine Kulturbeiz länger schliessen muss und für den Coq d’Or eine Durststrecke folgt; und dem freischaffenden von Wyl gehen gleich zu Beginn der Pandemie Artikel-Aufträge in der Grössenordnung von 5000 Franken verloren.
Schreiben fürs Jetzt, das Momentane
Wirkt die Situation auf andere lähmend, stachelt sie die beiden an: Sie wollen nicht den sterbenden Schwan geben, sondern ein Lebenszeichen – von sich und anderen Schreibenden. Am Samstag telefonieren sie miteinander. «Kissi hatte die Idee fürs Literaturmagazin», sagt von Wyl, «ich hatte den Namen.» Noch in der Nacht arbeitet er das Konzept von «Stoff für den Shutdown» aus, gewinnt zwei Grafiker zur Fronarbeit und ruft am Sonntag Autorinnen und Autoren «in allen Regionen, Lebenssituationen und Beunruhigungsgraden» an.
«Am Freitag hat der Bundesrat ausgerufen; am Sonntag haben wir angerufen», schreiben Kissling und von Wyl im Editorial der ersten Nummer von Ende März mit dem Titel «Umarmung». Schriftstellerin Simone Meier (50, «Reiz») schreibt «Notizen. Stand 17. März 2020», Spoken-Word-Autorin Fatima Moumouni (28) konstatiert «I am from dirty Switzerland», und Slam-Poetin Lisa Christ (30) bekennt «Ich habe momentan das Gefühl, jeden Tag in einen neuen Zustand zu verfallen». 30 Texte auf 60 Seiten.
«In der Literatur versuchen viele immer zeitlos für die theoretische Unendlichkeit zu schreiben», sagt von Wyl, «welterklärerische Essays und so.» Bei «Stoff für den Shutdown» sei es um das Gegenteil gegangen: ums Schreiben fürs Jetzt, das Momentane, Unabgeschlossene. «Zu einem Zeitpunkt, wo jede Zeitung einen Notfallplan hatte, ihr Erscheinen kurzfristig einzustellen, wollten wir das Versprechen von was Gedrucktem machen, das im Jetzt produziert ist und noch im selben Monat rauskommt.»
Hoffen auf einen exzessreichen Spätsommer
Ende April und Anfang Juni folgen zwei weitere Nummern – je rund tausend Hefte zum Einzelpreis von 15 Franken. Weitere Autorinnen und Autoren wie Gion Mathias Cavelty (46), Simone Lappert (36) oder Anna Stern (31) nutzen die Plattform dankbar und erhalten ein Texthonorar von 300 Franken, in Härtefällen sogar das Doppelte – dank Spenden und Crowdfunding-Einnahmen ist das möglich.
«Im ersten Crowdfunding erhielten wir dreizehntausend Franken mehr, als es unser Maximalziel war», sagt von Wyl. «Die brauchten wir im zweiten, wo wir gerade noch das Geld für die Finanzierung zusammenbrachten.» Für die Honorare, den Druck und die Tausenden Briefmarken und Couverts. Dieser versiegende Geldfluss ist auch der Grund, weshalb es im jetzigen Shutdown keine weitere Zeitschrift gebe. Nun sei alles «eine zähe Grauvariante von Alltag», was zu Beginn der Pandemie auch neu und aufregend war.
«Damals im März erwarteten wir keine Hilfe von den Behörden», so von Wyl. «Selbständige sind es sich leider gewohnt, immer vergessen zu gehen und in keiner generellen Lösung mitbedacht zu werden.» Immerhin denkt das Bundesamt für Kultur im Januar an ihn und vermeldet, dass Benjamin von Wyl für seinen letztjährigen Roman «Hyäne – eine Erlösungsfantasie» (lectorbooks) den mit 25'000 Franken dotierten Schweizer Literaturpreis 2021 erhält.
Und was ist seine Erlösungsfantasie aus der Corona-Krise? «Ich hoffe noch immer auf ein grosses Erwachen bei den Kulturschaffenden und ihrem Publikum, sobald es die Situation erlaubt», sagt von Wyl, «einen exzessreichen Spätsommer oder so.» Mit übermütigen Konzertmomenten, in denen man sich für zwanzig halte, und ungeplanten Zugfahrten quer durch die Schweiz.