Corona ist ihr Leben. «Ich mache wirklich nichts anderes mehr!», sagt Emma Hodcroft. Trotzdem: keine Spur von Corona-Müdigkeit. «Es gab so viele Entwicklungen, und das Virus ist einfach so interessant und relevant geblieben.» Die Varianten aus Grossbritannien, Südafrika und Brasilien beschäftigen die Epidemiologin. «Ich habe das Gefühl, das ist nur die Spitze des Eisbergs. Wir sehen zwar viele Mutationen immer wieder, aber wir wissen noch nicht, welche wichtig sind – und welche entscheidend für den Pandemieverlauf.»
Genau das aber will Hodcroft wissen. Gemeinsam mit Kollegen von der Uni Basel und aus Seattle hat die 34-jährige Forscherin ein Programm entwickelt, das die Pandemie quasi in Echtzeit verfolgt. «Nextstrain» heisst es – der nächste Strang. Wer auf die öffentlich zugängliche Webseite klickt, sieht viele bunte Grafiken – die Verbreitung von Viren ist dort in einer Art Familienstammbäumen dargestellt.
Beim Coronavirus Sars-CoV-2 vergleicht Nextstrain bekannte Mutationen und zeigt die Stationen auf, die das Virus bei seiner Reise um die Welt genommen hat. Jede sequenzierte Virusprobe weltweit ist hier eingetragen. «Bei dem Erreger, an dem ich früher gearbeitet habe, war ich so stolz auf meine 800 gesammelten Genome!» Für das Coronavirus ist es schon jetzt eine halbe Million.
Hodcroft ist die «Virenjägerin»
Wer hat sich wo angesteckt? Wie kam es zu einem Ausbruch? Und woher stammt diese und jene Virus-Variante? Dank Hodcroft und ihren Kollegen können Forscher und Regierungen weltweit solche Fragen beantworten – und entsprechende Massnahmen treffen.
Tee am Morgen, Nachrichten lesen, dann geht es los für die «Virenjägerin», wie eine Zeitung Hodcroft mal getauft hat. Der britisch-amerikanischen Epidemiologin hat das so gut gefallen, dass sie sich auf ihrem Twitter-Profil selbst so beschreibt. Ihre Follower dort wissen nicht nur, dass Hodcroft eine exzellente und bestens vernetzte Wissenschaftlerin ist, sondern auch, dass sie Katzen und Flugzeuge liebt und ihre Forschungsgruppe am liebsten «Hod-Crew» taufen würde.
Wer Hodcroft im echten Leben folgen will, muss nicht nur schnell denken, sondern vor allem auch schnell gehen. Zügig läuft sie beim coronasicheren Spaziergang durch ein ehemaliges Güterbahnhofsareal in Basel. «Das habe ich von meiner Mutter! Sie ist
ziemlich ... du weisst schon.» Hodcroft zieht die Hände aus der Manteltasche, boxt in die Luft.
In den USA und Schottland aufgewachsen – in Basel zu Hause
Ihre Eltern – eine Amerikanerin und ein Brite – trennten sich, als Hodcroft und ihre Schwester noch klein waren. Ihre Kindheit verbrachte die in Norwegen geborene Hodcroft zwischen Texas und Schottland. Studiert hat sie ebenfalls in beiden Ländern. Auf ihrer Webseite beschreibt sie sich als Fan von Schottenröcken wie von Cowboystiefeln. Seit drei Jahren ist sie in der Schweiz, die Pandemie zwang auch sie, die Dauer-Reisende, zum Stillstand. «So lang war ich noch nie an einem Ort.»
Sie nimmt es gelassen. «Vielleicht kann ich an Weihnachten zu meiner Familie fliegen», sagt sie. Weihnachten: noch gut zehn Monate. Wirklich, so lange wird der Ausnahmezustand dauern, Doktor Hodcroft?
«Die Fallzahlen sinken gerade, das ist gut und bedeutet, dass die Massnahmen wirken. Wir wissen aber noch nicht, wie sich die Mutationen auswirken. Wenn die Fallzahlen weiter sinken und wir über den Sommer viele impfen, sind wir im Herbst auf jeden Fall in einer besseren Position, als wir es im letzten Jahr waren» – präzise und mit einer bemerkenswerten Leichtigkeit erklärt Emma Hodcroft die aktuelle Lage. Das macht sie selbst international zu einer gefragten Expertin. Die Nachrichtenagentur Bloomberg hat sie interviewt, die «New York Times» über eine ihrer Studien geschrieben, auch bei der britischen BBC ist sie eine gefragte Gesprächspartnerin.
Und was kommt nach Corona?
«Ich habe ein Talent dafür, also sollte ich das auch machen», sagt Hodcroft. Auf Youtube gibt es ein altes Video, in dem sie ihre Doktorarbeit zu HIV in drei Minuten präsentiert. Verständliche Erklärungen statt Elfenbeinturm: Hodcrofts Ansatz ist in der Corona-Krise besonders wertvoll. «Verschwörungstheorien haben es leicht, wenn wir Wissenschaftler uns nicht so ausdrücken, dass uns die Leute verstehen.»
Mehr Corona-Helden
Einmal kam ein Fernsehsender zu spät zu einem Interview. Für das Gespräch mit Hodcroft blieben nur 15 Minuten, bevor sie in ein Meeting musste. Die Fernsehredaktoren schwitzten, Hodcroft blieb cool. «Mehr als einen Take brauche ich nicht.»
Und jetzt? Gibt es einen Plan für die Zeit «nach Corona»? Im November hat Hodcroft von der Uni Basel nach Bern gewechselt – ihr Vertrag ist auf ein Jahr befristet, das Los junger Wissenschaftler. «Eigentlich müsste ich jetzt schon Forschungsgelder beantragen, aber ich habe gar keine Zeit dafür.»
Selbst mit ihrem Partner, der ebenfalls in der Forschung tätig ist, gibt es kaum ein anderes Thema als – nun ja – Corona. Für Hodcroft ist aber auch klar: «Ich will nicht für immer an Sars-CoV-2 arbeiten!»
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