Auf einer Tafel steht das Sprichwort «Altes Brot ist nicht hart. Kein Brot ist hart». Zwei Männer lesen Zeitung, ein anderer sitzt in einem Sessel und ruht sich etwas aus. Ein weiterer Herr bemalt ein kleines Vogelhaus. Er kann sich nicht entscheiden, welche Farbe er nehmen soll. Einer der Zeitungsleser geht auf die Toilette, eine Betreuerin ruft ihm nach: «Franz, mit Seife!» und sagt zum Künstler am Tisch: «Hast du genug Farbe, Fritz?»
Es ist ein Mittwochnachmittag in der Tagesstätte für Betagte und an Demenz erkrankte Personen, die vom Schweizerischen Roten Kreuz Kanton Aargau in Frick geführt wird. Ihre Leiterin: Astrid Schreiber. Ihr Arbeitgeber sagt über Schreiber: «Sie ist eine kleine grosse Corona-Heldin.» Sie leite diese Tagesstätte mit «Leib und Seele».
Ihre Gäste wohnen zu Hause und werden von Angehörigen oder einer 24-Stunden-Hilfe betreut. Zwei bis drei Mal die Woche können die Betagten hierherkommen, um einerseits Kontakte mit anderen Menschen zu pflegen, Karten zu spielen oder zu basteln und andererseits um ihre Liebsten zu Hause zu entlasten. Rund um die Uhr einen Menschen mit Demenz zu betreuen, kann kräftezehrend und belastend sein.
«Ich habe die Not gespürt»
Während des ersten Lockdowns im Frühling empfahlen Bund und Kanton, dass Gäste von Tagesstätten wenn möglich zu Hause betreut werden sollen. Schreiber nahm mit allen Angehörigen Kontakt auf. «Ich habe die Not gespürt», sagt Schreiber. Und sie hat alles versucht, dass die Tagesstätte offen bleiben kann. «Wissen Sie, in so Situationen kann es daheim eskalieren.» Am Apparat hörte sie Sätze wie: «Ich kann nicht mal alleine Zähne putzen.» Ein Ehemann sagte zu ihr: «Jetzt muss sie zu euch kommen, es geht nicht mehr!»
Schreiber erarbeitete ein Konzept, teilte die Gäste und Betreuer in Gruppen ein, die sich fortan nicht mehr überschneiden. Damit das funktioniert, darf im Moment jeder Gast nur einmal die Woche kommen. «Das Masketragen verstehen viele unserer Gäste nicht. Daher schauen wir auf den Abstand und regelmässiges Händewaschen und -desinfizieren», sagt Schreiber. Von ihren 30 Gästen haben sich nur zwei oder drei entschieden, vorerst nicht zu kommen und eine Impfung abzuwarten. Der Rest wollte kommen.
Zwei Fachpersonen und 30 Freiwillige
Schreiber wurde auch kritisiert. Ob sie es verantworten könne, die Tagesstätte weiterzuführen, da die Gäste ja der Risikogruppe angehören. Sie sagt: «Jeder Gast entscheidet selber, ob er kommt.» Und sie sagt auch: «Ich würde alles wieder genau so machen.» Schreiber kann nicht anders, sie lebt für die anderen. Schon immer. Als ausgebildete Kinderkrankenschwester arbeitete sie in Spitälern, pflegte Frühgeborene und begleitete Frauen im Wochenbett. Dann arbeitete sie 20 Jahre bei der Spitex. Beim Aargauer Roten Kreuz wird sie Ende Mai nach zehn Jahren pensioniert. Vermutlich lässt man jemanden wie Schreiber nicht gerne gehen. Tatsächlich. Das Besondere an der Tagesstätte in Frick ist, dass das Betreuerteam aus zwei Fachpersonen und rund 30 Freiwilligen besteht. Freiwillige, das sind oft Pensionierte, aber unter anderen auch eine Flugbegleiterin, die gerade nicht fliegt.
Schreiber schaut zu ihren Mitarbeitern. «Auch meine Freiwilligen müssen betreut werden. Ich versuche immer, dass sie alles abladen können, bevor sie hinausgehen, damit sie den Kummer nicht mitnehmen.» Schreiber selber hat eine gute Distanz zu den Gästen. «Es ist ja nicht mein Vater, der hier ist», sagt sie.
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In der Tagesstätte geht es heiter zu und her
Heute sei die Männergruppe hier, erklärt Schreiber. Ein paar Herren lachen. «Was muesch ha?», fragt Schreiber ihren Gast Fritz. «A Nastuech?» Kurt streckt seinem Kollegen ein Päckchen hin. Während die anderen Vogelhüsli schon auf dem Fenstersims trocknen, malt Fritz noch. Er hat sich entschieden. Die letzte Hausseite wird er gelb anstreichen.
Schreiber: «Fritz, trinkst du deinen Tee noch? Oder kann ich den Pinsel da drin auswaschen?» Mit ihrer direkten Art hat Schreiber einen guten Umgang mit den betagten Gästen. Um kurz vor vier Uhr wird der erste Gast abgeholt. Schreiber sagt: «Kasch go!»
Er fragt nach: «Kan i go?» Schreiber: «Ja, bisch entloh!»
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Es klopft an der Scheibe. Kurt steht draussen und winkt allen. «Er kann sich einfach nicht lösen», sagt Schreiber und lacht. Fritz sitzt immer noch da, er schaut zu, wie die Farbe langsam trocknet. Dann wird auch er abgeholt. Astrid Schreiber begleitet ihn zur Tür. Der letzte Gast ist weg. Morgen kommen die nächsten.