Die Kultur zeigt ihr Gesicht wieder in der Öffentlichkeit. Doch es ist ein anderes Gesicht, eines, das nach schlaflosen Nächten aussieht. Corona hat es ausgezehrt und die Kulturbranche fundamental erschüttert. Aber sogar im Kampf ums Überleben wird die Kreativszene ihrem Namen gerecht, und neue Formate entstehen fast explosionsartig.
Zum Beispiel gemeinsames Radiohören: Das Collective Listening ist die Antwort auf die Pandemie des eben gestarteten Zürcher Theater Spektakels. Da das Zusammenkommen mit internationalen Künstlern kaum möglich ist, kann man die Konzerte der libanesischen Band Mashrou’Leila oder die Geschichten der US-amerikanischen Performance-Künstlerin Laurie Anderson (73) auf Picknickdecken mit Social Distancing auf der Landiwiese am Zürichsee hören – dort, wo bis Ende August das Theaterpublikum wuseln würde.
Literatur zum Mitnehmen
Eine andere, komplett neue Methode, um Literatur unter die Leute zu bringen, hat der Verein Buchowski entwickelt: Auf dem Berner Helvetiaplatz spuckt ein umprogrammierter Ticketautomat ab dem 21. August für 50 Rappen literarische Texte rund um das The- ma Öffentlicher Verkehr aus. «Schliesslich ist der ÖV neben der Toilette der wohl literarischste Ort der Welt», sagt Historiker und Autor Benedikt Meyer (38), einer der Erfinder des «Autormaten». Neben bekannten Schreibenden wie Franz Hohler (77) oder Nora Gomringer (40) erhalten dabei auch viele Nachwuchstalente das Ticket zur Leserschaft. Denn genau diese haben es während Corona besonders schwer.
Ein Problem, das auch die Agentur Tourbo-Music kennt. «Gerade die weniger bekannten Musizierenden sind oft Überlebenskünstler mit niedrigen Gagen und wenig Geldreserven», sagt Inhaber Tobias Bolfing (35). Für gewöhnlich vermittelt er Schweizer Musikerinnen und Musiker an Konzertlokale. Während Corona waren Hauskonzerte in den Gärten von Privatpersonen eine Möglichkeit, trotz Konzertverbot auftreten zu können.
«Wir wollten den Musikern die Möglichkeit bieten, ihre Arbeit weiterhin zu präsentieren und nicht aufzugeben», so Tobias Bolfing.
Aus Alt mach Anders
Auch die neusten Lockerungen des Bundesrats entschärfen die Situation nämlich nur bedingt. Viele grosse Veranstalter bauen eine Corona-Klausel in ihre Verträge ein, die es ihnen künftig erlaubt, Anlässe abzusagen, ohne die betroffenen Kulturschaffenden zu entschädigen.
Neben neuen Ideen fand eine Umlagerung auf andere Formate statt. Ein solches Schlupfloch hat auch das frühere Allianz Cinema gefunden und sich in ein Autokino verwandelt. Gemäss Daniel Frischknecht Knörr (41), COO der Cinerent AG, eine echte Notlösung: «Von Gewinn war dabei nicht die Rede. Es ging einfach nur ums Überleben.» Normalerweise würde es in dieser Zeit des Jahres bereits wieder losgehen mit der Planung des nächsten Sommers, doch die Unsicherheit ist zu gross.
Geteiltes Leid ist halbes Leid: Das sagen sich in Winterthur ZH über 20 Kulturschaffende, die sich zusammenschliessen und das Kulturstadtlabor gründen, ein stadtweites Projekt für kulturelle Experimente. So entstehen diesen Sommer Events wie kubische Kunstausstellungen auf öffentlichen Plätzen oder Lesungen unter freiem Himmel. Gemäss Alexandra Götz (30), Vorstandsmitglied des Kulturstadtlabors, sind das aber nur kurzfris-tige Lösungen: «Damit wir langfristig bestehen bleiben können, werden wir komplett umdenken müssen.»
Auf den neuen Billetten des Berner Autormaten ist zu lesen: «Für die Störung bitten wir Sie um Entschuldigung.»
Kreativität, Vernetztheit und Notlösungen mögen die Kulturszene durch die letzten Monate gebracht haben. Doch die Unsicherheit einer gesamten Branche bleibt existenziell.
Das Coronavirus beschäftigt aktuell die ganze Welt und täglich gibt es neue Entwicklungen. Alle aktuellen Informationen rund ums Thema gibt es im Coronavirus-Ticker.
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