«Bin ich ein schlechter Mensch?», fragt Laura. «Bin ich ein schlechter Mensch, weil ich wünschte, er hätte getroffen?»
Sie ist nicht die Einzige, die sich das fragt, geschweige denn, die sich das wünscht. Dabei besteht mein Umfeld aus friedfertigen Menschen. Aber auch aus Menschen, die Angst haben. Die unter der Präsidentschaft von Donald Trump (78) direkt und indirekt gelitten haben und die jetzt unter den Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs leiden. Menschen, die vom berüchtigten Project 2025 direkt ins Visier genommen würden.
Ich meine Frauen. Ich meine Eingewanderte. Ich meine Menschen, die wenig verdienen, sich mit mehreren Jobs über Wasser halten, manche, die am Rande des Prekariats entlangschrammen. Ich meine psychisch und körperlich Angeschlagene, die mit dem maroden Gesundheitssystem kämpfen. Eltern, die sich keine Privatschulen für ihre Kinder leisten können. Ich meine die LGBTQ-Gemeinschaft, die «als nächste dran ist», ihre hart erkämpften Rechte zu verlieren.
Ich meine Ashley, die ohne es zu wissen, eine Eileiterschwangerschaft erlitt und durch eine Notoperation gerettet wurde. Wäre sie nicht nach San Francisco gezogen, wäre sie in ihrem Heimatstaat gestorben, wo ein solcher Eingriff als illegale Abtreibung eingestuft wird. Ich meine Jon, einen der wenigen erfolgreichen Geschäftsleute in meinem Umfeld, für den im Flugzeug ständig ein neuer Platz gefunden werden muss – weil seine asiatischen Gesichtszüge seit der Pandemie bei Mitpassagieren Misstrauen wecken. Der 45. Präsident der Vereinigten Staaten hat Rassismus, nicht zuletzt gegen Amerikaner asiatischer Herkunft, salonfähig gemacht.
«Immerhin flieg ich so öfter in der Businessclass», sagt Jon stoisch. Auch meine Freundin Connie bekam in diesen Jahren zum ersten Mal zu spüren, dass sie, die in diesem Land geboren und aufgewachsen ist, als Fremde wahrgenommen wird. Als «eine von denen», von «diesen Leuten» – aus China. «Ich musste über 80 werden, um mich zum ersten Mal fremd zu fühlen.»
Fast das Schlimmste für mich war aber, dass Connies Frau, die Schriftstellerin Magdalena Zschokke, während der Trumpjahre ganz aufhörte zu schreiben. «Wozu?», fragte sie damals. «Was hat es noch für einen Sinn?» Das traf mich mehr als vieles anderes: Diese ungeschriebenen Bücher, diese erstickte Kraft. Heute schreibt mir Magdalena aus den Ferien: «Ich dachte, ich hätte es wieder, aber dann kam der Oberste Gerichtshof und Richterin Cannon. Nicht nur schreibe ich nicht, ich lebe in ständiger Angst. Ich denke an den Tod. Wir leiden definitiv beide unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung, auch meine Magengeschwüre melden sich wieder.»
Magdalena und Connie machen einen Roadtrip nach Kanada. Ich wage nicht zu fragen, ob sie ganz dortbleiben wollen. Die meisten meiner Freunde und Bekannten hier beneiden mich um die Möglichkeit, in ein anderes Land zurückkehren zu können. Amy drängt ihren französischen Freund geradezu zur Heirat. «Nur wegen dem Pass», sagt sie. «Aber bitte vor dem November!»
Die, die keine Wahl haben, zeigen sich tapfer. «Wir werden das überstehen», sagen sie. Immer wieder: «Wir sind schliesslich in San Francisco.» Doch San Francisco ist nicht mehr die liberale Insel, die es einmal war. Die Stadt gehört der Tech-Industrie, und die unterstützt Trump, der Steuerfreiheit und Deregulierung verspricht. Menschenrechte sind dabei kein Thema.
Ja, ich weiss, mein Weltbild ist naiv. Oder eher, es war naiv. Das ist vielleicht mein grösster persönlicher Verlust der letzten Jahre: Ich kann die Realität nicht mehr einschätzen, ich finde mich in ihr nicht mehr zurecht. Die Leitplanken meines Lebens, mein grundsätzliches Gefühl für richtig oder falsch, möglich oder nicht, halten nicht mehr stand. Mein Glaube an Gerechtigkeit ist erschüttert.
Als 2016 bekannt wurde, dass es sich bei den jubelnden Anhängern während der Ankündigung von Trumps Kandidatur um bezahlte Statisten handelte, dachte ich tatsächlich: Jetzt ist es vorbei. Jetzt wissen die Leute die Wahrheit, jetzt hat er keine Chance mehr. Naiv, wie gesagt.
Doch vor ein paar Tagen drückte der ehemalige republikanische Kongressabgeordnete Adam Kinzinger (46), der als Politiker garantiert zynischer denkt als ich, etwas Ähnliches aus: Er sei nach dem Kapitolsturm vom 6. Januar 2021 sicher gewesen, dass sich die Republikanische Partei nun vom abtretenden Präsidenten distanzieren würde. «Doch das ist nicht passiert.» Sein Gesichtsausdruck ist so verstört wie meiner.
Wenn ich allein wäre, würde ich jetzt vielleicht die Scherben meiner Träume einsammeln und gehen. Aber ich bin nicht allein. Mein Mann Victor ist in erster Linie Künstler. Wenn wir hier wegziehen würden, müsste er sein Atelier aufgeben, in dem er ein lebenslanges Nutzungsrecht geniesst. Er müsste seine Instrumente und Werkzeuge zurücklassen, die Kunstwerke, die Bücher, das Archiv. Die Musik, die Freunde, die Ausstellungen. Das würde er nicht überleben.
Würde er weitere vier Jahre unter Trump überleben?
«Wir leiden alle an PTBS», sagt Magdalena. Für mich ist es eher wie ein gebrochenes Herz. Ich fühle mich von diesem Land, das ich einmal so geliebt habe, betrogen und im Stich gelassen. Und wie in einer entgleisten Beziehung klammere ich mich verzweifelt an Schatten und Splitter des früheren Glanzes. Ich sehe es doch noch, da ist es doch wieder, genau das, was ich an Amerika so liebe: die unbändige Kraft, sich immer wieder neu zu erfinden. Der grundsätzliche Respekt für das Anderssein der anderen. Die Freundlichkeit, der Optimismus. Die fraglose, tatkräftige gegenseitige Unterstützung. Steh auf, das schaffen wir, ich helfe dir.
Es ist der Liebeskummer meines Lebens. Gerade, weil ich die Hoffnung nicht aufgeben kann. Es ist noch nicht vorbei.