Kurz nach der Wahl des 45. amerikanischen Präsidenten kontaktierte mich eine Organisation, die Schweizer Auswanderer in Krisengebieten unterstützt und im Notfall evakuiert. Man legte mir die Mitgliedschaft nahe, angesichts der Tatsache, dass ich ja nun nicht mehr in einem Rechtsstaat lebte. Das war, wie gesagt, vor fast acht Jahren. Man kann nicht behaupten, dass sich die Zustände in meiner Wahlheimat seither verbessert hätten.
In diesen Jahren habe ich ein gewisses Grundvertrauen verloren. Obwohl ich vermutlich nie einen Preis für meinen Realitätssinn oder auch nur meinen gesunden Menschenverstand gewonnen hätte, meinte ich doch, ein Gefühl für das zu haben, was möglich, was realistisch ist. Vielleicht gerade, weil es mein Beruf ist, Geschichten zu erfinden, meinte ich zu wissen, wo die Grenzen des Denkbaren liegen. Der Zerfall der amerikanischen Demokratie, kombiniert mit dem Trauma der Pandemie, hat diese Basis erschüttert. Da bin ich bestimmt nicht die Einzige. Und es wird wohl noch lange dauern, bis wir die Folgen des Erlebten einordnen können.
Dass ich mit diesen Gefühlen nicht allein bin, merke ich jedes Mal, wenn ich das Haus verlasse. In den letzten Wochen ist unsere Nachbarschaft noch mal näher zusammengerutscht. Ob ich zum Laden an der Ecke gehe oder in den Bus steige, es spricht mich immer jemand an. «Was sagst du zu den Ereignissen? Hast du das-und-das gelesen, gesehen, gehört? Wie geht es dir damit? Was tun wir jetzt?» So enttäuscht ich manchmal von der herzlosen und geldgierigen Tech-Bro-Mentalität bin, die meine Stadt mehr und mehr beherrscht, angesichts dieser Bedrohung spüre ich wieder die Präsenz der solidarischen, gemeinschaftsbewussten Grundgesinnung hier. Auch wenn es eine Minderheit ist, eine kleine Seifenblase, es gibt uns. Noch.
«Können wir uns umarmen?», wurde ich in der letzten Woche öfter gefragt. Man hält hier sehr viel von Umarmungen, aber fragt immer höflich nach, ob es auch passt. Ich gebe zu, ich hab mich in der Vergangenheit öfter über diese übertriebene Vorsicht amüsiert. Jetzt schätze ich sie. Ich bin fragil. Ich bin angeschlagen.
Und wie immer, wenn mich der Mut verlässt, bitte ich Victor um seine Perspektive. Er enttäuscht mich auch jetzt nicht: «Wir sind an einem Wendepunkt», sagt er. Und dann erzählt er etwas von Flugzeugen, die erst absinken müssen, um die nötige Geschwindigkeit zu gewinnen, damit sie ihre Verfolger abschütteln und hoch über die Wolken aufsteigen können.
Während ich dies schreibe, weiss ich noch nicht, ob wir auch an diesem vierten Juli Würste braten werden oder nicht. Aber ich spüre, dass viele Freunde jetzt Gesellschaft suchen. Ich backe eine gutschweizerische Aprikosenwähe aus den fünf perfekten, samtig-süssen Früchten, die uns der jahrelang totgeglaubte Baum dieses Jahr beschert hat. In einem Aufwallen von Ordnungssinn hatte ich Victor vor einiger Zeit schon gebeten, den Baum zu fällen. Der Anblick seiner nackten, dürren Äste verstörte mich. Doch Victor erkannte die Anlage zu neuem Leben, wo ich nur noch verdorrtes Holz sah. Unverdrossen goss er den scheinbar toten Baum weiter, und irgendwann trieb ein neuer Ast, und er blühte. Und jetzt trägt er Früchte.