Milena Moser über Zeit für sich
Traumferientraum

Am ersten Tag muss ich mich tatsächlich in den Arm kneifen: Ist das wahr? Kann das sein? Ist mein perfekter Ferientraum wahrgeworden, nach all den Jahren des Träumens und Sehnens?
Publiziert: 01.07.2024 um 11:25 Uhr
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Schriftstellerin Milena Moser (60) schreibt für Blick über das Leben. Sie ist Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Der Traum vom Fliegen».
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Wir tanzen nicht auf dem Deck einer Yacht im Hafen von Saint-Tropez, wir reihen uns nicht in die Endlosschlange vor dem Gipfel des höchsten Berges der Welt auf. Wir liegen nicht unter Palmen, sondern unter Rotkiefern, deren Nadeln leise auf uns herunterrieseln. Meine Freundin nimmt gleichzeitig an der Beerdigung eines kolumbianischen Curandero teil, sie fühlt mit seiner Familie so sehr mit, dass sie sich jedes Mal, wenn sie eine Seite umblättert, mit dem Handrücken über die Augen fahren muss. Ich hingegen folge einer jungen Amerikanerin in ein abgelegenes College, wo sie niemanden kennt, und finde mich in ihren Erinnerungen an ihre unkonventionelle und leicht vernachlässigte Kindheit wieder. 

Wir lesen. 

Meine Vorstellung vom Glück war schon als Kind relativ einfach: ein dickes Buch, ein bequemer Stuhl, Zeit. Und: in Ruhe gelassen zu werden. Meine Freundin teilt diesen Traum, und so fahren wir nun schon zum zweiten Mal ein paar Tage zusammen aufs Land, mit einem Koffer voller Bücher und ohne den geringsten Anspruch, irgendetwas zu unternehmen oder zu erleben. Möglich, dass wir später noch im Wald spazieren gehen. Möglich, dass wir hier sitzen bleiben. 

Zwischendurch schauen wir von unseren Seiten auf, schauen einander an und grinsen. Als sei uns ein besonders gerissener Trick gelungen. Und so ist es auch.

Meine Freundin betreut ihre todkranke Schwester, ich lebe mit einem Mann, der immer wieder die seltsamsten und bedrohlichsten gesundheitlichen Krisen scheinbar unbeschadet überlebt. Beide können wir einen solchen Ausflug nur mit diesem einen Vorbehalt planen: Wenn es unseren Liebsten gut geht. 

Und vielleicht geniessen wir diese Tage gerade deshalb so sehr. Die Möglichkeit, zwischen die Seiten einzutauchen in eine andere Welt. Das Geschenk des ungestörten Umblätterns. Nichts zu müssen. Nicht einmal reden. 

Der jüngere Teil meines Umfelds schüttelt den Kopf über meine Vorstellung von Traumferien und fragt besorgt nach, ob ich nicht Angst habe, mich zu langweilen? Nein. Die Angst vor der Langeweile ist mir komplett fremd. Im Gegenteil, ich sehne die Langeweile manchmal geradezu herbei, vor allem, wenn sich die Besuche in der Notaufnahme häufen. Aber der grössere und vor allem der weibliche Teil meines Umfelds beneidet mich. Nicht nur um diese vier glorreichen Tage, sondern auch um eine Freundschaft, in der so etwas möglich ist. Gemeinsam zu schweigen, zu lesen, gar nichts zu tun. 

«Das Leben einer Frau ist anstrengend», erklärte mir eine ältere Bekannte vor Jahren, als ich mich über zu wenig Zeit für mich beklagte. Sie sagte es, als sei das eine unumstössliche Tatsache. Je schneller ich sie akzeptierte, desto besser würde es mir gehen. Sie hatte natürlich recht, aber ich bäumte mich dagegen auf. Ich brauchte Zeit. Zeit für mich. Zeit zum Lesen. Was für eine Anmassung! Solche Wünsche hatten schlicht keinen Platz in meinem Leben. Haben in vielen Leben niemals einen Platz. Aber manchmal ändert sich das auch. Mit der Zeit. Mit dem Älterwerden. Die Prioritäten verschieben sich, die Ansprüche, die Verantwortungen. Vielleicht hat mir das meine Bekannte damals sogar schon vorausgesagt. Ich weiss es nicht.

Meine Freundin legt ihr Buch zur Seite und schaut in die Baumkronen hinauf. «Das ist exakt, was ich immer gewünscht habe», sagt sie. Und dann liest sie weiter.

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