Milena Moser über kleine Kinder und amerikanische Frauen
Die Übermütigen

Kürzlich im Park beobachtete ich eine Szene, die mir einen Moment lang das Gefühl gab, ich hätte alles verstanden: Wie wir Menschen funktionieren, worunter wir leiden und was wir wirklich brauchen. Doch der Moment verging.
Publiziert: 24.06.2024 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 23.06.2024 um 17:11 Uhr
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Mit übermütigen Kindern, die sich gerne austanzen, kann sich Autorin Milena Moser bestens identifizieren. Auch sie drückte sich als Kind gerne durch wildes Tanzen aus.
Foto: Getty Images
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Milena MoserSchriftstellerin

Eine Gruppe von kleinen Kindern hatte sich im Park unter den überlebensgrossen Holzwürfeln versammelt, die das Wort L-O-V-E buchstabierten. Es ist Sommer, die amerikanischen Schulen sind drei Monate lang geschlossen, während die Eltern meist nur eine Woche Ferien haben. Pro Jahr. Deshalb gibt es diese sogenannten Summercamps, auf dem Land, aber auch in der Stadt, im Museum, im Freibad, im Park und am Strand. Überall sieht man sie, Gruppen gleichaltriger Kinder, die surfen lernen oder Pflanzen bestimmen oder Lieder einstudieren. 

Diese Kinder waren noch klein, vier oder fünf Jahre alt, alle hatten zu grosse T-Shirts mit dem Camp-Logo über ihre Kleidung gezogen. Sie sassen unter den Buchstabenblocks und assen ihre mitgebrachten Toastbrot-Sandwiches, und ich hatte ein kurzes nostalgisches Flashback zu den gefühlten Tausenden von Lunchboxen, die ich früher einmal gepackt hatte. Eine der Betreuerinnen las eine Geschichte vor, ich war zu weit weg, um die Worte zu hören, aber ich sah das Buch in ihrer Hand und die ihr konzentriert zugewandten Gesichter. Wie Sonnenblumen, dachte ich gerührt. Und dann sprang eines der Kinder auf und begann, sich in einer wilden Art von Ausdruckstanz zu bewegen. Ganz offensichtlich war es vom Inhalt der Geschichte so gepackt, dass es nicht anders konnte, als sie auszuleben. Auszutanzen.

Ich wusste genau, wie sich das anfühlte. Denn das hatte ich als Kind auch getan – ohne mir dessen bewusst zu sein. Erst als die anderen Kinder zu lachen begannen, merkte ich, was ich getan hatte. Und dass sich so ein Verhalten nicht gehört, dass es komisch und daneben ist. Doch das war in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort. Dieses kleine Kind hier wurde weder ausgelacht noch geschimpft. Die Hälfte der Gruppe blieb komplett unbeeindruckt, während die andere zaghaft mitzutanzen begann. Ich merkte, dass ich den Atem angehalten hatte. 

«Das ist es, was wir brauchen», versuchte ich später einer Freundin zu erklären. «Mehr Übermut!»

«Ach ja? Das hast du doch eben noch kritisiert», merkte sie etwas beleidigt an. Stimmt, ich hatte mich gerade über die Eigenart amerikanischer Frauen beschwert, beim geringsten Anlass in die Luft zu springen, mit den Händen zu klatschen und spitze Schreie auszustossen. Ein Verhalten, das mir nach all den Jahren immer noch sehr fremd ist und mich manchmal sogar erschreckt. Mit Übermut hat das nichts zu tun, es kommt mir oft erzwungen vor, fast verbissen: Wir haben Fun, und wenn es uns das Gesicht zerreisst! Nicht, dass ich meine Freundin je bei so etwas beobachtet hätte. Aber sie fühlte sich offenbar stellvertretend mit angegriffen.

«So hab ich das nicht gemeint», versuchte ich zu erklären, oder mich zu entschuldigen. Mir ging es um etwas ganz anderes. Mich berührte dieser freie, ungehemmte Ausdruck von Gefühlen, von Empfindungen, von Bildern. Ohne die geringste Besorgnis, was «die anderen» denken könnten. Ohne Angst, ausgelacht zu werden. Ohne die geringste Rücksicht darauf, «was die Leute denken könnten». Ist das nicht unsere grösste Fessel? Die vor dem Urteil der anderen? 

«Und s laschtet uf ne win e schwäre Stei / Dass si Hemmige hei ...» sang doch schon der geniale Mani Matter. Doch die Zeile verlor ihre Wirkung in meiner Übersetzung, und meine Freundin schüttelte nur den Kopf. «Ist das was Schweizerisches?», fragte sie. 

Ja. Nein. Vielleicht. Darüber muss ich länger nachdenken ...

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