Als ich vor mehr als vier Jahren mit dem Kurs begann, war ich nicht einmal die Älteste. Die Ungeschickteste, klar, das bin ich in jeder bewegungsorientierten Situation. Aber das macht nichts. Die Vorstellung, dass man entweder gut ist oder es gleich bleiben lässt, die gibt es hier nicht. Hauptsache, man hat Spass dabei. Einer der Hauptgründe, warum ich immer noch, trotz allem, so gerne hier lebe.
Damals wurde der Workshop von einer älteren mexikanischen Tänzerin angeleitet, die Ballett mit Feldenkrais und Märchen mischte. Einmal mussten wir uns vorstellen, wir hätten die Wahl zur Miss Texas gewonnen und würden nun die entsprechende Schärpe diagonal über die Brust tragen. «Dehnt das X aus», rief Marisa. «Zieht das T zum S hin!» Ein andermal mussten wir uns Drachenschuppen auf unsere Wirbelsäule denken. Ich liebte diesen Kurs, doch dann begann die Pandemie. Allein in meinem Wohnzimmer, hilflos an eine Stuhllehne geklammert, verlor ich schnell den Anschluss. Und ich vergass, wie glücklich mich diese Stunden gemacht hatten. Bis ich vor ein paar Wochen die Ausschreibung wieder sah und mich spontan anmeldete.
Erst dachte ich, ich sei im falschen Raum gelandet. Ein junges Mädchen mit strengem Haarknoten und vorstehenden Knochen unterhielt sich mit einem Mann, der in einem glänzend schwarzen Ganzkörpertrikot ein bisschen wie ein Roboter aussah, eine perfekte Maschine aus der Zukunft. Der Lehrer hingegen war eher füllig, trug ein Hemd mit Knopfleiste über einer schlabbrigen Trainerhose und hiess mich gleich mit einer aufmunternden Anekdote über seine bisher älteste Schülerin willkommen, die hundert Jahre alt war. Und sich trotzdem an der Stange halten konnte.
Tatsächlich sind alle anderen unter dreissig. Und die meisten haben schon Balletterfahrung, manche sind professionelle Tänzer, wie der junge Mann im glänzenden Trikot – aber niemand hinterfragt meine Anwesenheit. Und die Befürchtungen meines Umfelds, ich könnte mich überfordern oder verletzen, sind unbegründet. Wir studieren seit drei Wochen das Plié. Wir zeichnen Linien auf dem Boden, wir bewegen die Knochen des Schulskeletts. Oft sitzen wir im Kreis, strecken und beugen unsere Zehen und hören dem Lehrer zu, der Anekdoten von seinen Auftritten erzählt: wie er ein verschwitztes Kostüm mit Wodka besprühte und zwischen zwei Akten an der australischen Sonne trocknen liess, zum Beispiel.
Ich sitze im Kreis mit den anderen und fühle mich wie in einem Film. Ich grinse von einem Ohr zum anderen.
Mehr von Milena Moser
Dieser Kurs führt nirgendwohin. Ich werde nicht «weiterkommen» und auch nichts «erreichen». Und gerade das ist es, was mich so glücklich macht: Das sinnlose Tun, ohne Ziel und Zweck, einfach weil es Spass macht, hat in einem erwachsenen Leben viel zu wenig Platz. Aber irgendwann ist man so lang erwachsen, dass man wieder Freiräume und Lücken im Alltag findet.
An meinem Geburtstag bringe ich Zimtschnecken mit. Eine Freundin führt nur einen halben Block von der Ballettschule entfernt eine kleine Bäckerei. Ihre Frau macht auch Ballett, sagt sie, als sie die Schachtel für mich einpackt. Ihre Frau ist auch etwa dreissig Jahre jünger als ich, aber wie gesagt, das kümmert hier keinen. Im Gegenteil: «Good for you», sagen sie, gut für dich! Und dann greifen sie zu. Nach kurzem Zögern fragt der Lehrer, wie alt ich denn nun geworden sei, und einen Moment lang bin ich versucht, zu sagen: «Das weisst du doch: einhundert!»