Der japanische Autobauer Nissan plant möglicherweise einen spürbaren Rückzug aus Europa. Das legt ein Bericht der Nachrichtenagentur Reuters nahe, der sich auf Nissan-Insider beruft. Danach wolle Nissan sein Europa-Geschäft zugunsten einer Konzentration auf die Automärkte in China, Japan und USA zurückfahren. Offiziell will der Konzern dazu am 28. Mai Stellung nehmen – dann ist ein neues Strategiepapier angekündigt. Eine völlige Aufgabe des Europa-Geschäfts ist laut Reuters aber wohl nicht geplant: Die beiden erfolgreichen SUV Qashqai und Juke sollen in Europa weiterhin angeboten werden.
Sollte am Gerücht etwas dran sein, käme der Schritt überraschend. Erst vor zwei Jahren hatte Nissan seine Europa-Strategie angepasst: Schnell weg vom Diesel; stattdessen sollten künftig elektrifizierte Antriebe die CO2-Grenzwerte einhalten helfen. Beim autonomen Fahren plante Nissan eine Demokratisierung der Technik über die preisgünstigen Fahrzeugsegmente, um schnell auf hohe Stückzahlen zu kommen. Bis zum letzten Jahr, als er den Titel an Teslas Model 3 abgeben musste, war Nissans Leaf das meistverkaufte Elektroauto in Europa. Erst kürzlich hatte die Marke ihre Pläne für eine neue Generation von Elektroautos enthüllt. Und mit dem Qashqai war Nissan der Pionier beim Siegeszug des Crossover-SUVs in Europa.
Störmanöver im Rosenkrieg?
Möglicherweise ist das Durchstechen der neuen Strategie aber auch ein weiterer Schritt im Rosenkrieg zwischen Nissan und dem französischen Allianzpartner Renault. Seit 1999 arbeiten beide Marken bei Strategie, Entwicklung und Einkauf eng zusammen. Statt in fusionierten Strukturen kooperieren sie als selbstständige Unternehmen und sind über wechselseitige Kapitalbeteiligungen miteinander vernetzt. Seit 2002 sind diese an eine gemeinsame Holding mit Sitz in Amsterdam übertragen.
Wichtigster Architekt der Verbindung: Carlos Ghosn (66). Der brasilianisch-libanesisch-französische Renault-Manager restrukturierte ab 1999 Nissan mit durchschlagendem Erfolg, wurde 2001 Vorstandschef und übernahm 2005 noch den CEO-Posten bei Renault. Als Mitsubishi 2016 ebenfalls Teil der Allianz wurde, wurde Ghosn dort Verwaltungsratschef und wechselte ein Jahr später auf den gleichen Posten bei Nissan.
Streit seit Ghosns Sturz
Eine Erfolgsstory – bis zum 19. November 2018: Interne Prüfungen hätten Hinweise auf Untreue und Steuerhinterziehung ergeben, so das Nissan-Management. Ghosn wurde in Tokio inhaftiert, freigelassen, wieder inhaftiert. Er verlor nach und nach alle Posten in der Allianz; sich selbst stellte er in einem Video aus dem Gefängnis im April letzten Jahres als Opfer interner Intrigen bei Nissan dar. Im Januar dieses Jahres gelang ihm schliesslich eine spektakuläre Flucht aus Japan, versteckt in einem Koffer für Audio-Equipment.
Seit dem Sturz des einstigen Star-Managers beharken sich die Allianzpartner Nissan und Renault. Von Renault-Seite wurde die Verhaftung Ghosns als Versuch Nissans gewertet, die Oberhand in der Allianz zu gewinnen. Nissan dagegen schürte Spekulationen, Ghosn habe heimlich die Vorbereitungen für eine definitive Übernahme Nissans durch Renault getroffen, die Nissan aber nie werde akzeptieren können. Als Renault im Juni 2019 mit Fiat Chrysler Automobiles FCA über eine Fusion verhandelt, stellt sich Nissan quer mit der Drohung, in diesem Falle müsse die Allianz neu bewertet werden. FCA zog sein Fusionsangebot zurück; aus der Traum vom drittgrössten Autokonzern der Welt. Als Retourkutsche mischte sich Renault daraufhin in Nissans Personalpolitik im Top-Management ein.
Mögliche Arbeitsteilung?
Will Nissan also mit dem neuen Strategiepapier Renault ein weiteres Mal provozieren, um seine Position in der Allianz zu verbessern? Renault soll sich laut Reuters auf den hochumkämpften und preissensiblen europäischen Markt konzentrieren, Nissan wolle vor allem die USA, Japan und den potenziellen Wachstumsmarkt China bedienen – das Papier scheint nicht nach gleichwertiger Aufstellung der beiden Partner zu tönen.
Allerdings musste Nissan nach Rekordjahren in Europa 2016 und 2017 zuletzt Einbussen hinnehmen. Im Sommer 2019 kündigte die Marke an, wegen Umsatzrückgängen in Europa und den USA weltweit fast 15'000 Stellen abbauen zu müssen. Nissans Nobelmarke Infiniti, die in den USA gut läuft, aber in Europa nie Fuss fassen konnte, hat sich bereits zum Jahresende 2019 aus Europa verabschiedet. Eine klare Kompetenzverteilung brächte zudem neue Ruhe in die Allianz. Laut Reuters hinke Nissan ausserdem bei der Lancierung neuer Modelle auf dem Heimmarkt hinterdrein – eine Neufokussierung könne die Position in Japan stärken.
Zum lachenden Dritten in der Auseinandersetzung könnte Mitsubishi werden. Laut Reuters soll die Marke die Plug-in-Hybridtechnologie für alle künftigen Allianz-Modelle liefern, während sich Renault auf reine Elektroantriebe konzentrieren soll.