«Ja, ich würde Putin töten»
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Russischer Elitesoldat gibt zu:«Ja, ich würde Putin töten»

Vom Aggressor zum Verräter
Das Drama eines russischen Elitesoldaten

Pawel Filatjew war beim Überfall auf die Ukraine dabei. Zwei Monate lang kämpfte er für Wladimir Putin – bis er zu zweifeln begann und sich widersetzte. In der Ukraine gilt der Buchautor als Aggressor, in Russland als Verräter.
Publiziert: 19.02.2023 um 00:08 Uhr
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Aktualisiert: 19.02.2023 um 11:41 Uhr
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Der russische Elitesoldat Pawel Filatjew hat zwei Monate in der Ukraine gekämpft.
Foto: Zamir Loshi
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Robin BäniRedaktor

Am Tag, als er in einen Krieg rast, ohne es zu wissen, sitzt Pawel Filatjew (34) in einem Lastwagen mit defekten Bremsen. Unter seinen Füssen liegen Dutzende Mörsergranaten, im Arm hält er ein verrostetes Gewehr, ein paar Essensrationen stecken in seinem Marschgepäck.

Filatjews Frontreport aus dem letzten Jahr gilt als erstes Dokument, in dem ein russischer Soldat den Ukraine-Krieg öffentlich kritisiert. Der Text wirkt glaubhaft. Denn er offenbart desolate Zustände in der Armee und zeigt, weshalb der russische Sturmangriff weitgehend gescheitert ist.

24. Februar 2022, 4 Uhr früh

«Gegen vier Uhr morgens mache ich die Augen wieder auf, ich höre Lärm, Getöse, die Erde bebt, scharfer Geruch von Schiesspulver liegt in der Luft. Ich schlage die Plane zurück und sehe nach draussen: Salven erhellen den Himmel, im Dunkeln leuchten Wolken oder Rauch. Rechts und links von unserer Kolonne stehen Raketenartilleriebataillone, irgendwo hinter uns hört man das Donnern von Geschützen, wie mir scheint. Die Luft ist durchtränkt von Panik, der Schlaf wie weggeblasen, verschwunden auch die Erschöpfung aufgrund des wenigen Essens, des Fehlens von Wasser und Erholung. Keine Ahnung, was passiert. Wer schiesst von wo auf wen? Eine Minute später habe ich mir eine Zigarette gedreht, um richtig aufzuwachen. Ich begreife, dass das Feuer vom Kopf unserer Kolonne kommt, zwanzig, dreissig Kilometer voraus. Langsam wachen alle auf, zünden sich Zigaretten an, es geht ein Raunen durch die Menge: ‹Jetzt gehts los.›»

Filatjews Buch «ZOV – Der verbotene Bericht» wird inzwischen weltweit gelesen. Aber es bleibt ein Erfahrungsbericht, das heisst: Die meisten seiner Aussagen lassen sich nicht überprüfen. Für den Kreml spielt das aber keine Rolle. In Russland drohen dem Elitesoldaten bis zu 15 Jahre Haft – wegen «Diskreditierung der Armee». Filatjew flüchtete nach Frankreich. SonntagsBlick traf ihn in Paris.

Herr Filatjew, wie stellen Sie sich neuen Leuten vor?
Pawel Filatjew: Ich schliesse keine neuen Bekanntschaften.

Fürchten Sie den russischen Geheimdienst?
Wenn Sie mich umbringen wollten, hätten sie es bereits getan. Aber das wäre eine Dummheit. Mein Buch würde zum Welt-Bestseller.

Würden Sie Putin töten, wenn Sie könnten?
Das ist eine provokante Frage – aber: ja. Und mein Gewissen würde mich nicht quälen. Für mich ist Putin der absolute Feind des russischen Volkes.

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Zugleich hätten Sie noch vor kurzem ohne Zögern auf Ukrainer geschossen – so steht es in Ihrem Buch.
Die russische Regierung hat die Ukraine zu Unrecht überfallen. Aber ich war im Krieg. Wenn jemand aus einem Haus rennt und zu schiessen beginnt, würde meine Hand nicht zittern. Ich muss dann einfach zurückschiessen. Niemand hält die Hände hoch, wenn auf ihn geballert wird. Das wäre verrückt. Im Krieg gelten andere Regeln. Wer das verurteilt, soll selbst einmal in dieser Situation sein.

Das wirkt nicht sonderlich sympathisch.
Ich habe nicht das Ziel, jemandem zu gefallen. Ich will ehrlich sein und sage einfach, was ich im Krieg gedacht und gefühlt habe. Ich finde es nicht schade um ukrainische Soldaten. Aber wenn ich sehe, wie die Bevölkerung leidet, weil ihre Häuser zerstört sind, tut mir das leid. Trotzdem bin ich auf das russische Militär stolz.

Es gibt Beweise für Kriegsverbrechen, zum Beispiel in Butscha. Dennoch sind Sie stolz auf die russische Armee?
Ich finde nicht alle Soldaten gut. Aber ich bin stolz auf die Truppe, in der ich gedient habe. Wenn man Teil einer Gemeinschaft ist, steht man dahinter. So ist der Mensch als soziales Wesen. Von meinen Kameraden hat niemand gefoltert. Die Soldaten, die in Butscha waren, stammen aus Russlands fernem Osten. In den dortigen Militärtruppen gehören Verbrechen und Gewalt zur Tagesordnung. Aber ich finde es beschämend, dass die russische Regierung die Kriegsverbrechen nicht verurteilte und keine Untersuchung einleitete.

Filatjew kämpfte im 56. Luftsturmregiment. Diese Einheit besteht aus Aufklärern, Mörserschützen und Sturmtruppen. Bei Kriegsbeginn lautet ihr Auftrag: voranstürmen, den Feind zur Seite drängen und ein Aufmarschgebiet halten, damit reguläre Truppen nachziehen können.

Am Tag der Invasion gehört Filatjews Regiment zur Speerspitze, die von der Krim aus gegen Nordwesten vorrückt. Sie erstürmen die südukrainische Stadt Cherson – die Ukrainer sind vom Angriff überrascht und weichen zurück. Doch bei Mykolajiw endet der Vorstoss im Grabenkampf. Filatjew liegt zwei Monate an der Front, bis eine Artilleriegranate neben ihm einschlägt. Die Druckwelle schleudert Dreck in sein Gesicht. Ein Auge entzündet sich, er droht zu erblinden. Filatjew wird evakuiert.

In einem Spital auf der Krim schaut Filatjew russisches Fernsehen und merkt: Die Medien zeigen ein falsches Bild: Das Ausmass der Verluste wird verschwiegen. Der Elitesoldat gerät in Rage – er schwört sich, die Wahrheit zu erzählen und alles zu tun, um den Krieg zu stoppen. Auf dem Handy notiert er seine Erlebnisse und publiziert sie im Sommer 2022 auf «VKontakte», einem sozialen Netzwerk in Russland. Es ist eine Abrechnung mit der Militärführung und der eigenen Regierung. In erster Linie aber ist es ein Aufruf an alle russischen Soldaten.

Mit Ihrem Buch wollten Sie Russlands Soldaten davon überzeugen, sich nicht am Krieg zu beteiligen. Demnächst jährt sich der Tag der Invasion, und das Grauen dauert an.
Meine Kameraden in der Armee sagen mir oft: «Pawel, was ist der Sinn deines Buchs? Was hast du erreicht? Hat sich etwas geändert? Nein.» Ich sehe, dass ich den gewünschten Effekt nicht erzielt habe. Im Gegenteil. Im Internet verfluchen mich alle: Ukrainer und Russen bezeichnen mich als Schwein. Aber für mich gab es keinen Ausweg. Ich musste für mich – dazu war ich moralisch verpflichtet – alles erzählen, die Lügen aufdecken und zeigen, wie uns Putin in diese Hundescheisse hineingezogen hat.

Denken Sie, dass sich noch jemand überzeugen lässt, der seit einem Jahr der Propaganda glaubt?
Es lohnt sich immer, die Menschen von der Wahrheit zu überzeugen. Leider betrifft der Krieg nicht viele. Sie haben zu essen, spüren keine Sanktionen und können ungehindert Talkshows anschauen. Alles bleibt für sie beim Alten. Aber früher oder später betrifft dieser Krieg alle.

Sie hatten gehofft, dass russische Soldaten ihre Waffen niederlegen. Doch an der Front haben Sie auch nicht aufgegeben.
Das hängt mit meiner Erziehung und meiner Einstellung zusammen. Ich wusste, ich kann mich nicht ergeben oder wie ein Feigling vor dem Krieg flüchten: Entweder komme ich tot oder verletzt zurück. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben.

Mit Verlaub: Sie wirken innerlich zerrissen.
Wo sind wir geboren? Wer waren unsere Eltern? Wer sind unsere Freunde? All das macht uns unterschiedlich. Ich wurde in Russland sozialisiert. In mir steckt ein Cocktail aus Propaganda, Menschenverstand, Gewissen und Patriotismus.

Was verstehen Sie unter Patriotismus?
In Europa ist Patriotismus eher etwas Negatives. Für mich sind es alle positiven Seiten meines Landes. Ich bin stolz auf die russische Vergangenheit. Mein Land hatte grossen Einfluss auf die europäische Geschichte, Kultur und Literatur. Natürlich hat Russland nicht immer alles richtig gemacht. Und natürlich gibt es in der Regierung Idioten, Arschlöcher und sehr viel Korruption. Aber Patriotismus hat für mich nichts mit der Regierung zu tun.

Als Kind verbringt Filatjew viel Zeit in der Kaserne. Mit 18 beginnt er seinen Militärdienst. Das 56. Luftsturmregiment war sein Zuhause. Der Regimentskommandant kannte seinen Vater, der ebenfalls in dieser Einheit gedient hatte. 2010 verlässt Filatjew das Militär, studiert Geschichte und lebt zehn Jahre lang als Pferdezüchter. Das Geld reicht gerade zum Leben, aber er will mehr, vielleicht ein eigenes Haus. In der Corona-Pandemie unterschreibt er einen Vertrag als Zeitsoldat – und kehrt zu seinem Regiment zurück.

Sie haben sich freiwillig zum Militärdienst gemeldet. Sind Sie für das Leid in der Ukraine mitverantwortlich?
Ich habe einfach ausgeführt, was mir aufgetragen wurde. Niemand sagte: «Morgen fahren wir in den Krieg.» Ich bin nicht aufgewacht und dachte: «Jetzt lass mal die Ukraine entnazifizieren.» Ich habe weder geplündert, gefoltert, noch jemanden erschossen.

Trotzdem: Haben Sie kein schlechtes Gewissen?
Moralisch muss ich das mit mir selbst ausmachen. Aber entscheidend sind Handlungen und nicht Worte. Meine Handlung war die Veröffentlichung des Buchs.

Wen machen Sie für den Krieg in der Ukraine verantwortlich?
Die Schuld trägt allein die russische Regierung – angefangen bei den Provinzvorstehern bis zum Präsidenten.

Und die russische Bevölkerung?
Bei Kindern, Jugendlichen und älteren Menschen verstehe ich, dass sie nichts tun können. Aber bei Soldaten denke ich: Du hast doch Ehre und musst wie ein Mann handeln! Ich habe meinen Bericht veröffentlicht, als ich noch in Russland war. Ich habe einen Beschwerdebrief an das Militärgericht und direkt an Putin geschrieben. Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um diesen Krieg zu stoppen. Was ich verachte, sind Russen, die ins Ausland flüchten und erst dann Kritik äussern. Warum seid ihr nicht in Russland aufgestanden? So ändert sich nie etwas.

Filatjew unterbricht. Sein Kopf glüht. Er greift mit dem Finger zwischen die Zähne, spuckt etwas auf den Boden und fährt fort.

Meine Heimat braucht eine Wiedergeburt. Russland hat die Voraussetzungen, um das beste Land der Welt zu sein. Aber jetzt sind wir am Boden – sogar eine Bedrohung für die Menschheit. Das finde ich zutiefst traurig. Natürlich tut mir die Ukraine leid. Aber ich sehe auch Russland als Opfer. Mein Volk wurde eingeschüchtert, manipuliert und belogen. Putin hat sein eigenes Land ruiniert, und jetzt geht er weiter, um das nächste zu zerstören.

Ursprünglich wollte Filatjew seinen Bericht veröffentlichen und sich dann der Polizei stellen. Er hat mit dem Leben abgeschlossen und denkt an Suizid. Doch dann trifft er auf Wladimir Osetschkin. Der Leiter des Menschenrechtsnetzwerks «Gulagu.net» drängt Filatjew zur Flucht aus Russland. Während zwei Wochen lebt der Elitesoldat aus dem Rucksack, übernachtet jeden Abend an einem anderen Ort. Dann gelingt ihm die Flucht nach Frankreich. Die Einzelheiten bleiben geheim. In Paris kommen Verlage auf ihn zu: Alle wollen seinen Bericht publizieren.

Sie wollten den Erlös aus dem Buchverkauf an Hilfsbedürftige in der Ukraine schicken. An wen haben Sie gespendet?
Ich habe keinen Rappen mit diesem Buch verdient – es hat mir nur Probleme bereitet. Alles, was ich jetzt trage, ist Kleidung aus Russland. Hier lebe ich von 400 Euro Sozialhilfe im Monat. Ich lebe von Tag zu Tag. Manchmal lädt mich jemand auf einen Kaffee ein oder kauft mir etwas zu essen.

Wie kann das sein?
Es gibt eine Organisation, die eine riesige Menge an Russen in die Irre führt. Sie heisst «New Dissident Foundation» und gibt sich als Stiftung aus. Juristisch gesehen hat sie ihren Sitz in Frankreich. Jemand von dieser «Stiftung» bot mir an, Wohltätigkeitsarbeit zu leisten. Also unterschrieb ich einen Vertrag. Ich war naiv, spreche kein Französisch und habe alle Rechte an meinem Buch abgetreten. Jetzt kämpfe ich vor Gericht dagegen.

Suchen Sie deswegen die Öffentlichkeit?
Ich habe mir geschworen, alles zu tun, um diesen Krieg zu stoppen. Zudem möchte ich einer allgemeinen Russophobie entgegenwirken. Häufig wird in den Medien versucht, den Krieg zu vereinfachen – oft wird pauschalisiert und verallgemeinert: Alle Russen sind jetzt schlecht. Doch die Realität ist komplizierter.

Es wäre ein Anfang, wenn Sie sich bei den Ukrainern entschuldigen.
Auf Russisch gibt es das Wort «Iswini» (Entschuldigung). Das sage ich, wenn ich jemandem auf den Fuss trete. Aber im Zusammenhang mit dem Krieg wäre es eine Verharmlosung des Geschehens. Ein zweites Wort wäre «prostite» (um Verzeihung bitten). Das könnte man eher sagen. Aber das beim Begräbnis eines ukrainischen Soldaten auszusprechen, wäre kompletter Unsinn: Egal, was ich sage, es wird sowieso negativ gesehen. Jetzt, wo der Konflikt noch läuft, kann man nicht miteinander reden. Das kann erst später gelingen, mit nüchternem Kopf.

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