Maria Babtschenko (21) gleitet durch eine dunkle Welt, wenn sie im Auto nach Hause fährt. In Kiew brennt keine Strassenlaterne mehr.
Hat sie ihren Wohnblock erreicht, muss sie zu Fuss in den 17. Stock: keine Elektrizität, kein Lift. Ist die Heizung ausgefallen, frieren die Rohre zu. Um nicht zu schlottern, trägt sie Thermokleidung. Wenn das Leitungswasser fliesst, trinkt sie viel Tee. Immerhin wohnt sie unweit eines Krankenhauses. Das bedeutet: In diesem Quartier der ukrainischen Hauptstadt wird der Strom nicht ganz so häufig abgeschaltet.
So beschreibt Babtschenko ihr Leben per Textnachricht. Aus Schweizer Sicht eine harte Realität. Verglichen mit ukrainischen Binnenflüchtlingen jedoch ist die junge Frau privilegiert. In der Ukraine sind 17,7 Millionen Menschen auf Hilfe angewiesen, vermeldete das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (Unocha)
8,5 Millionen Notleidende
Zu den Notleidenden zählen 8,5 Millionen, die vor dem russischen Angriff in andere Landesregionen fliehen und den Grossteil ihrer Habseligkeiten zurücklassen mussten. Wer Glück hat, besitzt eine Decke oder einen Schlafsack. Und lebt in einer Zeltstadt, wo Generatoren und Holzöfen wärmen. Wer Pech hat, erfriert. Je nach Region sind Temperaturen unter 15 Grad minus normal.
Um den Kältetod von Millionen zu verhindern, bewilligte der Bundesrat Anfang November 100Millionen Franken Winterhilfe. Empfänger der Gelder sind mehrheitlich Fonds wie jener der Unocha
Auch materielle Direkthilfe gehört dazu. Die Schweiz spendete 30 Generatoren und Feuerlöschpumpen. Am 22. Dezember sollen je 40 Heizungen und Generatoren folgen, wie das Staatssekretariat für Wirtschaft auf Anfrage mitteilt.
«Hilfe der Schweiz ist bescheiden»
Doch genügt das? Dieser Frage weichen nicht wenige Hilfsorganisationen lieber aus – so auch die Caritas. Das katholische Hilfswerk teilt mit: «Die Schweiz hat rasch und umfassend humanitäre Hilfe geleistet und die Hilfe jeweils auch erweitert.» Beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) klingt es so: «Das IKRK äussert sich dankbar für die Unterstützung, die es als Reaktion auf den Ukraine-Krieg erhalten hat.» Beide Organisationen werden bei ihrer Tätigkeit in der Ukraine durch die Schweizer Regierung finanziell unterstützt.
Von Bundesbern unabhängigere Stimmen hingegen zeigen sich kritisch, zum Beispiel die Entwicklungsorganisation Helvetas. Sie finanziert ihre Ukraine-Hilfe ausschliesslich aus Spendengeldern und Beiträgen der Glückskette. «Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist die Hilfe der Schweiz eher bescheiden», urteilt Helvetas.
Humanitäre Hilfe im Wert von 202 Millionen Euro
Ein Blick auf die Zahlen bestätigt dies. Das Kiel Institut für Weltwirtschaft führt eine Datenbank über Unterstützungsleistungen für die Ukraine. Demnach hat die Schweiz vom 24. Januar bis 20. November humanitäre Hilfe im Wert von 202,8 Millionen Euro geleistet. Das entspricht 0,03 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Zum Vergleich: Österreich spendete rund 570 Millionen, ungefähr 0,13 Prozent seines BIP.
Die Schweiz müsse die Ukraine grosszügiger unterstützen, meint Patricia Shmorhun Hawrylyshyn (65). Sie ist Mitgründerin von Move Ukraine, einer Wohltätigkeitsorganisation, die Schulen und Turnhallen renoviert, Betten auftreibt, Küchen einrichtet, Heizkörper einbaut, leer stehende Räume in Wohnfläche umfunktioniert.
Zurzeit richtet Move Ukraine ein Kinderspital in der südlich von Lwiw gelegenen Stadt Stryj ein. Bis Januar will die Schweizerin 470 Menschen unterbringen. Alles ohne Staatsgelder: Die Spender aus der Schweiz waren bisher allesamt Privatpersonen. Sie brachten mehr als 650'000 Franken zusammen.
Alltägliche Gegenstände werden benötigt
Shmorhun Hawrylyshyn rät: «Wer helfen möchte, soll sich überlegen: Was braucht man, wenn man keinen Strom, kein warmes Wasser und keine Möglichkeit zum Kochen hat?» Gewiss sei der Bedarf an Generatoren gross. Aber auch alltägliche Dinge wie Winterjacken, Gaskocher, Powerbanks oder Schlafsäcke seien sehr gefragt.
Für die Helferin geht es dabei um weitaus mehr, als nur Ukrainerinnen vor dem Kältetod zu retten: «Wenn der Krieg nicht hier endet, dehnt er sich aus.» Alle Länder, die an die Ukraine grenzen, seien auf diese Eskalation vorbereitet. Shmorhun: «In der Schweiz hat man den Wahnsinn dieses Krieges noch nicht ganz verstanden.» Jede Spende stärke den Widerstand und helfe, den bewaffneten Konflikt schneller im Sinne der Ukraine zu beenden.
Flucht aus Kiew
Sie selbst lebte ursprünglich mit ihrem Mann in Kiew. Seit die beiden fliehen mussten, sind sie in Iwano-Frankiwsk, einer Stadt in der Westukraine, die einst an die 230'000 Menschen bewohnten. Üblicherweise hat sie sechs bis acht Stunden am Tag Strom – im Schnitt zwei Stunden mit und vier Stunden ohne Elektrizität. Doch der Rhythmus sei nicht sehr regelmässig: Teils gehe das Licht mitten in der Nacht an. «Dann stehe ich auf und versuche, so schnell wie möglich zu duschen, zu waschen oder zu kochen.» Um nicht zu frieren, schläft sie in einer Daunenjacke. Inzwischen habe sie sich an diese extremen Lebensumstände gewöhnt.
Auch Maria Babtschenko aus Kiew hat gelernt, mit der Kälte umzugehen. Will sie überleben, bleibt ihr nichts anderes übrig, «Die Menschen passen sich an alles an», meint sie und erinnert sich an die Worte ihres Präsidenten: Es ist besser, ohne Licht, Wasser und Heizung als mit den Russen zu leben.