«General Winter» betritt das Schlachtfeld in der Ukraine – vielleicht entscheidet er endgültig über Sieg und Niederlage in diesem vertrackten Krieg. Kreml-Herrscher Wladimir Putin (70) glaubt, die Angegriffenen mit seinen ruchlosen Raketenangriffen auf zivile Elektrizitätswerke und Heizzentralen in die Knie zu zwingen: Kalte Wohnungen und dunkle Strassen bringen die Ukrainer schon zum Umdenken, so das Kalkül dieser Terrorstrategie. Der Hauptverantwortliche für die verlustreichsten Fehlentscheidungen in der neueren russischen Geschichte irrt sich allerdings auch hier gewaltig.
Aber der Reihe nach.
Historisch war es meistens die angreifende Partei, die mit dem Wintereinbruch ins Wanken geriet. Der französische General Napoleon verlor bei seinem Russlandfeldzug im Dezember 1812 ganze Heerscharen in den verschneiten Weiten. Und auch Adolf Hitlers 6. Armee wurde vom harschen Winter 1942/1943 vor Stalingrad wortwörtlich kaltgemacht.
Den schlecht ausgerüsteten Horden, die Putin für seinen Raubzug ins westliche Nachbarland entsandt hat, wird es kaum besser ergehen. Anders als die Verteidiger haben die russischen Soldaten keine Nato-Schlafsäcke, mit denen sich auch die bissig-kalten Nächte im Donbass (nicht selten minus 30 Grad) unbeschadet überstehen lassen.
300'000 Flüchtlinge durch den Wintereinbruch
Seine frierenden Frontkämpfer sind Putin herzlich egal, solang seine Raketen ganze Städte vom Elektrizitätsnetz abschneiden und Millionen Ukrainer nicht nur Strom, Handy-Kommunikation und Licht, sondern auch Trinkwasser und Heizwärme nehmen. Wer schon einmal einen ukrainischen Winter miterlebt hat, der weiss, wie unerbittlich der Frost zwischen November und Februar über das flache Land fegt. Im Februar 2021, kurz vor Kriegsausbruch, stand ich südlich von Kiew plötzlich alleine auf dem militärischen Übungsfeld, weil es meine Übersetzerin Olena trotz Wintermantel und Handschuhen in der klirrenden Kälte nicht länger aushielt.
Putin setzt voll auf die schwindende Kriegsmoral zitternder Bürger in der Ukraine. Auf den ersten Blick mit Erfolg. Auch wenn das Verteidigungsministerium in Kiew über die sozialen Netzwerke noch lustige Videos von Soldaten verbreitet, die sich Schneeduschen gönnen, und auch wenn man sich den Witz erzählt, dass es noch mindestens 3000 russische Raketenangriffe auf Kiew brauche, bis der Lebensstandard dort auf das Niveau Russlands herabsinke: Die Lage kurz vor dem Wintereinbruch ist ernst.
Kirill Dolimbaew (45), einst Steuer-Eintreiber in Mariupol, heute Chef einer der grössten ukrainischen Hilfsorganisationen, sagt im Gespräch mit SonntagsBlick: «In diesem Winter droht der Ukraine eine humanitäre Katastrophe. Mehr als 300'000 Menschen könnten zur Flucht gezwungen werden und müssten das Land verlassen.»
Tote trotz geheizter Kriegs-WGs
Auch die Wädenswilerin Eva Samoylenko-Niederer (40), die in der Donbass-Stadt Slowjansk bis zum russischen Angriff ein Kinderheim betrieb und heute mit ihrem Verein Segel der Hoffnung humanitäre Hilfe im Kriegsgebiet leistet, sagt zu SonntagsBlick: «Die Ukrainer werden gegen den harschen Winter kämpfen. Aber gerade viele ältere Menschen werden eines Morgens aufwachen und sich sagen: Ich mag einfach nicht mehr, ich stehe jetzt nicht auf, um neues Holz zu holen. Viele dieser Menschen wird man erst im nächsten Frühjahr finden – tot.»
Langsam beginnen viele zu verstehen, wie ernst die Lage ist. «Viele Ortschaften im Kriegsgebiet werden in den Wintermonaten unbewohnbar sein», sagt Samoylenko-Niederer. In der Grossstadt Slowjansk etwa werden schon jetzt nur noch ausgewählte Häuser geheizt, in denen Zurückgebliebene aus mehreren Haushalten in einer Art Kriegs-WG zusammenleben. «Trotzdem werden Menschen erfrieren, genau wie schon beim Krieg 2014/2015. Es wird nicht genügend Ressourcen geben, um alle zu retten.»
Partygänger werden wachgerüttelt
Weitaus stärker als die tragischen Einzelschicksale wird sich der Wachrütteleffekt bemerkbar machen, den Putins Raketenterror in den vorwinterlichen Städten abseits der eigentlichen Front hat. Gerade in den Metropolen Kiew, Lwiw und Dnipro, wo das Leben im Sommer und Herbst weitgehend normal verlaufen ist – inklusive Technopartys, Shopping-Festivals und vollen Gourmetrestaurants –, spüren die Menschen wegen anhaltender Strom- und Heizungsausfälle plötzlich wieder: Verdammt, da ist ja Krieg vor meiner Haustür!
Putins Truppen müssen sich daher im anbrechenden Winter nicht nur vor den ukrainischen Panzerflotten fürchten, die über die nun zufrierenden Matschfelder des Donbass auf geschwächte russische Stellungen zurollen. Sie haben vor allem mit einer neuen Welle der Solidarität im Land zu rechnen, die den warm eingepackten ukrainischen Soldaten zusätzlich den Rücken stärkt.
«General Winter» dürfte sich auch in diesem Krieg einmal mehr auf die Seite der Angegriffenen stellen.