Die südukrainische Stadt Cherson ist befreit. Videos im Netz zeigen, wie Bewohner russische Fahnen von den Dächern reissen und die ukrainische Nationalhymne singen. Sie haben acht Monate russische Besatzung überstanden. Doch der Krieg macht keine Pause. Die Artillerie donnert weiter. Seit gestern beschiessen die Russen das Gebiet, das sie soeben aufgegeben haben.
Mit der Rückeroberung feiert die Ukraine einen symbolischen Sieg. Cherson – vor dem Krieg lebten dort rund 300'000 Menschen – ist die einzige Regionalhauptstadt, die Putin seit der Invasion erobern konnte. Ihr Verlust ist eine Blamage für die russische Armee, aber kein entscheidender Rückschlag. Denn nun entsteht möglicherweise eine Pattsituation.
Cherson liegt direkt am Fluss Dnepr. Alle Brücken über dem Gewässer sind unpassierbar – ebenso wie der nahegelegene Kachowka-Staudamm. Den Russen blieb keine Wahl: Nachschub gab es nur über eine Fährverbindung. Allerdings nicht genug: Der ukrainische Verteidigungsminister schätzt, dass 40'000 russische Soldaten unterversorgt blieben.
Letztlich scheiterten sie an der Naturgewalt des Dnepr. Das Gleiche droht nun allerdings dem Vorstoss vom Westufer. Selbst wenn die Ukrainer den Fluss überqueren können, hätten sie mit denselben Versorgungsschwierigkeiten zu kämpfen wie zuvor die Russen in Cherson.
Sprengt Putin den Staudamm?
Nicht zuletzt erstreckt sich dort eine schier endlose Steppe – ohne ausreichende Deckung. Hinzu kommt die Furcht vor Minen oder einem russischen Gegenschlag, die auch den ukrainischen Vormarsch verlangsamt. Präsident Wolodimir Selenski räumte ein, dass Putin den Kochowka-Staudamm sprengen könnte.
Dass sich die Soldaten beider Armeen auf absehbare Zeit am Dnepr gegenüberstehen, sei im Interesse Putins, meint Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Geschichte Russlands an der Uni St. Gallen: «Je länger der Kreml die Gebiete halten kann, umso schwieriger wird deren Reintegration in die Ukraine.»
Russland treibt die Russifizierung energisch voran. Für ihre Gehirnwäsche nutzen sie Busse und sogar eigens eingeflogene Lehrer aus Russland. Die meisten Gegner sind bereits aus den annektierten Gebieten geflohen. Laut Schmid hofft Putin «immer noch auf eine Kriegsmüdigkeit des Westens». Versiegt die Unterstützung von dort, könnten die Russen bald wieder die Oberhand gewinnen.
Kurz: Der Winter rückt näher, der Krieg droht einzufrieren – ein lang andauernder Krieg jedoch spielt tendenziell den Russen in die Karten.