Die Anordnung im russischen Staatsfernsehen ist kurz – doch sie hat es in sich: Am Mittwochabend gibt das russische Verteidigungsministerium bekannt, dass sich die Truppen von Präsident Wladimir Putin (70) aus Cherson zurückziehen. Die strategisch wichtige Stadt im Süden der Ukraine geriet in den vergangenen Wochen in den Fokus der Kampfhandlungen.
Russlands Truppen wollen sich demnach an das linke Ufer des Flusses Dnepr zurückziehen. «Die Entscheidung, das linke Dnepr-Ufer zu verteidigen, ist nicht leicht, aber wir werden das Leben unserer Soldaten und die Kampfkraft der Truppengruppe retten», sagte General Sergei Surowikin (56) gegenüber den staatlichen russischen Nachrichtenagenturen. Der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu (67) genehmigte den Abzug aller russischen Truppen vom rechten Ufer des Dnepr-Flusses, wie ein Video zeigt.
Mysteriös: Erst am Mittwochmittag kam der stellvertretende Chef von Cherson ums Leben – nach offiziellen Angaben bei einem Verkehrsunfall. Das Auto von Kirill Stremousow (†45) sei in einen Unfall geraten, erklärte am Mittwoch der von Moskau ernannte amtierende Gouverneur Wladimir Saldo. Ob der Tod tatsächlich ein Zufall war oder mit dem Abzug der Truppen aus Cherson zu tun hat, ist aber völlig unklar.
Russland schlachtete Sieg aus
Mit dem Rückzug verliert Russland im Süden die Kontrolle über die einzige ukrainische Gebietshauptstadt, die es seit Beginn des Angriffskriegs Ende Februar eroberte. Für den Kreml ist der Verlust von Cherson eine brutale Niederlage. Zudem stellte die Region Cherson das letzte wichtige Teilstück der «Landbrücke» vom russischen Festland zur Krim dar, die Putin seit der illegalen Annexion der Halbinsel 2014 begehrt, wie die «Washington Post» schreibt.
ETH-Sicherheitsanalyst Niklas Masuhr (29) zu Blick: «Cherson ist wichtig, weil der jeweilige Besitzer Offensiven unmöglich machen kann – halten die Ukrainer Cherson, sind russische Offensiven in die Südwestukraine unmöglich und umgekehrt können die Ukrainer nicht von Cherson aus in den Süden vorrücken.»
Russland hatte das Gebiet Cherson in den ersten Kriegswochen weitgehend besetzt, schon Anfang März marschierten russische Truppen in Cherson ein. Russland gewann schnell die Kontrolle, schlachtete den Sieg auch in der Staatspropaganda aus. Andrej Turtschak, Generalsekretär des Generalrats von Putins Partei «Einiges Russland», sagte am 6. Mai, dass «Cherson für immer zu Russland gehört». Die Stadt wurde schliesslich im September – ebenso wie die Regionen Saporischschja, Luhansk und Donezk – völkerrechtswidrig annektiert.
Krim fällt nicht zwingend
Ungeachtet dessen kündigte die Ukraine immer wieder an, Stadt und Gebiet Cherson auch mithilfe westlicher Waffen befreien zu wollen. Im August startete die Ukraine eine Gegenoffensive, immer wieder kam es zu heftigen Kämpfen rund um die Stadt. Mehrfach berichteten die Ukrainer von grossen Zerstörungen und hohen Verlusten auf russischer Seite. Unabhängig konnte das oft nicht überprüft werden. Zuletzt rechneten aber auch russische Militärblogger mit einem baldigen Rückzug der eigenen Truppen aus der Stadt Cherson.
Anfang November ordnete die pro-russische Regierung in Cherson erstmals die Evakuierung von Teilen der Zivilbevölkerung an. Rund 100'000 Menschen seien auf die andere Flussseite gebracht worden, teilte der von Putin ausgewählte Oberbefehlshaber Sergei Surowikin damals mit. Kiew verurteilte den Schritt als «Deportationen».
Die in den ersten Tagen der Militäroffensive in der Ukraine eingenommene Stadt Cherson war Russlands wichtigste Eroberung. Die gleichnamige Region ist von strategisch grosser Bedeutung, weil sie an die 2014 von Moskau annektierte ukrainische Halbinsel Krim grenzt.
Die Rückeroberung von Cherson bedeutet aber wohl noch nicht automatisch, dass die Krim fällt. «Bis dahin müssten sich die Ukrainer erst durch die Verteidigungslinien östlich des Dnepr kämpfen», sagt ETH-Experte Mahsur. Und genau das wollen Putins Truppen verhindern.