«Man kann da nicht neutral sein!»
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Kasparow über Ukraine-Krieg:«Man kann da nicht neutral sein!»

Schachgenie und Putin-Kritiker Garri Kasparow (59)
«Die Ukraine wird nächstes Jahr den Krieg gewinnen»

Er war Schachweltmeister, heute ist er einer der grössten Putin-Kritiker: Im Interview mit Blick sagt Garri Kasparow, wie der Krieg enden wird und wie ein modernes Russland aussehen muss.
Publiziert: 11.11.2022 um 23:59 Uhr
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Aktualisiert: 01.06.2023 um 15:43 Uhr
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Garri Kasparow sagt Putin eine grosse Niederlage voraus.
Foto: Zamir Loshi
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Guido FelderAusland-Redaktor

Einst war Garri Kasparow (59) stolz, für sein Land Weltmeister zu sein. Heute verachtet das aus Russland stammende Schachgenie Präsident Wladimir Putin (70) und kritisiert den Krieg in der Ukraine mit scharfen Worten.

Für einen Vortrag vor der Finanzwelt reiste Kasparow diese Woche von New York nach Zürich, wo ihn Blick zum Interview traf.

Blick: Herr Kasparow, als grosser Schachmeister sehen Sie die Züge des Gegners voraus. Können Sie auch sagen, welche Züge Putin in diesem Krieg noch spielen wird?
Garri Kasparow:
Im Schach gibt es Regeln, an die sich beide Seiten halten. Diktatoren kümmern sich nicht um Regeln, ausser um jene, die sie selber aufstellen und die man nicht voraussagen kann.

In Ihrem Buch «Winter Is Coming» von 2015 haben Sie geschrieben, dass man Putin aufhalten müsse. Warum ahnten Sie, dass er einst derart durchdrehen würde?
Er hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er das Sowjetreich wiederherstellen möchte und die Nato zu ihren Grenzen von 1997 zurückgedrängt werden sollte. Man hätte ihm nur zuhören sollen. Er hat sogar vor aller Augen seine Truppen zusammengezogen und in die Armee investiert. Für mich war es nie eine Frage, ob er es tun würde, sondern wann.

Schachgenie und Putin-Kritiker

Garri Kimowitsch Kasparow (59) wird als der stärkste Schachspieler bezeichnet, den es je gegeben hat. Er war mehrere Jahre lang Weltmeister und besiegte auch Schachcomputer. Seit dem Karriereende 2005 engagiert er sich im Kampf gegen das russische Regime, wobei er mehrmals verhaftet wurde. Kasparow ist in Aserbaidschan aufgewachsen und hiess bis zum Tod seines Vaters 1971 Garik Weinstein. Er ist zum dritten Mal verheiratet und Vater von vier Kindern. 2014 hat er die kroatische Staatsbürgerschaft erhalten. Er lebt in New York. Schach spielt er heute nur noch zum Spass.

Garri Kimowitsch Kasparow (59) wird als der stärkste Schachspieler bezeichnet, den es je gegeben hat. Er war mehrere Jahre lang Weltmeister und besiegte auch Schachcomputer. Seit dem Karriereende 2005 engagiert er sich im Kampf gegen das russische Regime, wobei er mehrmals verhaftet wurde. Kasparow ist in Aserbaidschan aufgewachsen und hiess bis zum Tod seines Vaters 1971 Garik Weinstein. Er ist zum dritten Mal verheiratet und Vater von vier Kindern. 2014 hat er die kroatische Staatsbürgerschaft erhalten. Er lebt in New York. Schach spielt er heute nur noch zum Spass.

Er hat jetzt den Rückzug aus Cherson angekündigt. Warum gibt er die wichtige Stadt auf?
Es ist die letzte Truppe, die noch fähig ist zu kämpfen und die er für andere Kampfplätze erhalten will. Um Zeit zu gewinnen, bietet er Verhandlungen an, auf welche die Ukrainer aber nie eingehen dürfen.

Wie, glauben Sie, wird der Krieg enden?
Entweder mit der Zerstörung der Ukraine oder mit der Befreiung. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass sich die Ukraine nächstes Jahr durchsetzen und den Krieg gewinnen wird.

Es gibt immer wieder Anschläge auf Versorgungszüge in Russland. Wie gross ist der Widerstand in Russland?
Das kann ich nicht abschätzen.

Gibt es Widerstand im Kreml?
Solange der Krieg nicht klar verloren ist, kaum. Putin wird aber ernsthafte Probleme bekommen, sobald die Ukrainer die Grenze zur Krim überschritten haben.

Der Kreml geht mit Gegnern nicht zimperlich um. Haben Sie Angst, dass sich Putin an Ihnen rächen könnte?
An gewissen Veranstaltungen, wo es viele Leute hat, etwa bei Buchsignierungen, sorge ich dafür, dass Sicherheitspersonal engagiert wird. Zudem vermeide ich es, in gewisse Länder zu reisen, so etwa in die Türkei, nach Zypern oder Ungarn.

Warum haben Sie Angst vor dem EU-Land Ungarn?
Kann man dem Orban-Regime trauen? Ich bin nicht sicher, ob es einen Anschlag verhindern würde, wenn einer auf mich geplant wäre und es davon wüsste. Ich reise nur in Länder, in denen Putin nicht willkommen ist.

Putin beeinflusst die Russen mit Propaganda. Was wissen Ihre Freunde in Russland überhaupt über den Krieg in der Ukraine?
Meine russischen Freunde sind entweder im Exil, im Gefängnis oder tot. Viele Russen glauben, was Putin sagt, Hunderttausende haben aber das Land verlassen aus Angst davor, als Kanonenfutter in die Ukraine geschickt zu werden.

Wie gross ist die Wirkung der Sanktionen?
Enorm. Gerade bei der Waffenproduktion. Russland ist stark von ausländischen Produkten abhängig.

Auch das russische Volk, das mit dem Krieg nichts zu tun hat, ist von den Sanktionen betroffen. Wie fair ist das?
Man muss unterscheiden zwischen diesen Einschränkungen und dem Leid, das die Ukrainer wegen der Russen ertragen müssen. Russland hat in der Ukraine Genozid begangen.

Sind denn alle Russen am Krieg schuld?
Ich will niemanden verurteilen. Aber ich selber fühle mich mitschuldig, weil es mir in 20 Jahren nicht gelungen ist, Putin zu stoppen.

Welchen Einfluss hat China auf Russland?
China macht klar, dass es an einem Krieg kein Interesse hat. Auch ein Verlierer-Diktator interessiert China nicht.

Hält sich der Kreml wegen China mit Atomwaffen zurück?
Das dürfte ein Mitgrund sein. Putins Leute wissen aber auch genau, dass sie bei einem Atomschlag mit einer Antwort der USA rechnen müssen. Die russischen Generäle wollen sich und ihre Ehefrauen nicht in Gefahr bringen.

Putin bekommt im Krieg Unterstützung von zwielichtigen Gestalten. Was halten Sie von Tschetschenenführer Kadyrow und dem Chef der Wagner-Gruppe Prigoschin?
Kadyrow kann seinen Blutdurst nun auch in der Ukraine stillen, und die starke Position von Prigoschin und dessen Parallelarmee zeigen, dass Putin lange nicht alles unter Kontrolle hat.

Besteht die Möglichkeit, dass einer von diesen Kriegstreibern Putins Nachfolger wird?
Mit Militär und Gewalt kann man keinen Staat führen.

Sie haben einmal Ihren Freund Michail Chodorkowski als neuen Präsidenten und Nachfolger von Putin vorgeschlagen …
Es geht im Moment nicht darum, wer den Staat führen soll, sondern darum, wie man ihn führen soll. Michail arbeitet an einem Entwurf, wie man Russland reorganisieren könnte.

Wie müsste denn ein neues Russland aussehen?
Es braucht eine stabile Regierung, bei welcher der Westen die Sanktionen aufheben kann. Ein neues Moskau muss beweisen, dass der Krieg in der Ukraine der letzte Krieg des russischen Imperiums gewesen ist und die Ausdehnung gestoppt wird.

Der Bundesrat hat Deutschland verboten, in der Schweiz hergestellte Panzermunition an die Ukraine zu liefern. Was halten Sie davon?
Das ist mehr als falsch. Man kann doch in einem solchen Krieg, in dem Zivilisten getötet werden, nicht neutral sein. Jedes Land, das helfen kann, muss helfen.

Wie müsste die Schweiz sonst noch helfen?
Im Krieg gehts nicht nur um Munition, es geht auch um Geld. Die Schweiz könnte helfen, versteckte russische Gelder zu finden und es der Ukraine für den Wiederaufbau geben. Es ist an der Zeit, dass sich die Schweiz entscheidet, ob sie weiterhin vorgibt, neutral zu sein, oder ob sie sich auf die Seite der zivilisierten Welt stellt, die gegen das absolut Böse kämpft.

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