Vitali (29) steht auf der Strasse und zieht an einer Zigarette, als die ersten Raketen über seinen Kopf fliegen. Die Druckwelle einer Detonation knallt gegen seine Brust. Russische Panzer rollen durch die Strassen. Er rennt in sein Haus und nagelt Bretter an die Fenster. Vitali könnte noch fliehen, doch er bleibt.
Sein Heimatort Woltschansk liegt im Nordosten der Ukraine. Bis zur Grenze mit Russland sind es drei Kilometer. Putins Armee erobert die Stadt am 24. Februar als Erstes. Dann rast der russische Konvoi in Richtung Charkiw. Um zur zweitgrössten Stadt der Ukraine vorzudringen, müssen die Russen über den Fluss Siwerskij Donez, der stellenweise mehr als zwei Kilometer breit ist. Doch ukrainische Truppen haben die Brücke gesprengt und bremsen damit den russischen Vorstoss. Gleichzeitig werden auch Hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer isoliert. So wie Vitali.
Von nun an lebt der Ingenieur auf russisch besetztem Gebiet. Strom- und Wasserleitungen sind zerstört. Vitali hat eine Autobatterie, deren Strom seiner Wohnung für acht Stunden Licht gibt. Dann muss er die Batterie ans Auto anschliessen und fahren, bis sie aufgeladen ist.
Um Wasser zu haben, geht er zum Fluss und füllt Kanister. Reis, Brot und Fleischkonserven erhält er aus Russland. Mit einem Moped liefert er das Essen auch an Freunde nahe der Front. Einmal hört er dabei ein Zischen. Vitali springt in einen Strassengraben. Der Bombenhagel dauert über eine Stunde lang. «Ich dachte, jetzt sterbe ich», sagt er. Nur knapp entgeht er dem Tod.
Elektroschocks in der Folterkammer
Täglich ziehen Lastwagen an ihm vorbei, gefüllt mit Leichen russischer Soldaten. «Egal, wo ich war, ich hörte fast immer Explosionen. Mal näher, mal weiter entfernt», beschreibt Vitali seinen Alltag unter der Besatzung. Er könnte nach Russland fliehen. Doch er will nicht im Land des Feindes leben. Vitali bleibt. Auch nachdem 300 Meter neben seinem Haus ein Geschoss einschlug.
Er versucht, ein normales Leben zu führen und die Schrecken auszublenden. Musik hören, kochen, arbeiten. Mit einem Freund flickt er Velos, Autos, Laster. Egal, was – Hauptsache, es besteht aus Metall und hat Räder.
Eines Tages treten russische Soldaten in seine Werkstatt. Sie wollen, dass er ihr Quadbike repariert. Vitali lehnt höflich ab: «Ich weiss nicht, wie das funktioniert.» Die Soldaten gehen, ohne ihm eine Pistole an die Stirn zu halten. Vitali hat Glück, sein Arbeitskollege Alexei nicht.
Anwohner aus Woltschansk klauen russische Munition. Sie hieven die Geschosse in einen Kleintransporter, einen Gazelle mit dem aufgemalten Z. Doch das Fahrzeug hat einen Defekt, bleibt liegen und landet in der Garage von Vitali.
Alexei ist mit der Reparatur beschäftigt. Russische Soldaten erspähen das Auto. «Lass uns reden», sagen sie und bringen Alexei in eine ehemalige Fabrik. Vor dem Krieg wurden dort Flugzeugteile produziert. Nun ist es eine Folterkammer. Mit einer Autobatterie verpassen sie Alexei Elektroschocks. Die Folter dauert zwei Tage. Nur einen Kilometer von Vitalis Haus entfernt.
Flucht durch Feindesland
Vitali hat nie in der ukrainischen Armee gekämpft. Er lebt ja auf besetztem Gebiet. Dennoch beteiligt er sich am Kriegsgeschehen. Auf Google Maps markiert er russische Stellungen und Munitionslager. Einmal wöchentlich marschiert er zu einem Hügel. Nur dort kann er auf das russische Mobilnetz zugreifen. Über die App Telegram sendet er alle Informationen an die ukrainische Armee. Bis Anfang August gibt er die Hoffnung nicht auf, dass sie ihn befreien wird.
Verwesungsgeruch durchdringt die Luft des Waldes. Hier, unweit der Stadt Isjum, liegen Hunderte Gräber. Sie wurden entdeckt, nachdem ukrainische Truppen vergangene Woche das Gebiet zurückerobert hatten. «Es gibt klare Anzeichen, dass Menschen gefoltert wurden», sagte Präsident Wolodimir Selenski. Laut dem ukrainischen Polizeichef Ihor Klimenko wurden im Gebiet Charkiw bereits zehn Folterkammern gefunden. Zu den Vorwürfen äusserte sich im Kreml bisher niemand. Ob es in Isjum zu Gräueltaten wie beim Massaker von Butscha kam, ist noch unklar. Das Uno-Büro für Menschenrechte kündigte an, eine Beobachtergruppe zu entsenden. Die Experten sollen sich einen unabhängigen Eindruck verschaffen.
Verwesungsgeruch durchdringt die Luft des Waldes. Hier, unweit der Stadt Isjum, liegen Hunderte Gräber. Sie wurden entdeckt, nachdem ukrainische Truppen vergangene Woche das Gebiet zurückerobert hatten. «Es gibt klare Anzeichen, dass Menschen gefoltert wurden», sagte Präsident Wolodimir Selenski. Laut dem ukrainischen Polizeichef Ihor Klimenko wurden im Gebiet Charkiw bereits zehn Folterkammern gefunden. Zu den Vorwürfen äusserte sich im Kreml bisher niemand. Ob es in Isjum zu Gräueltaten wie beim Massaker von Butscha kam, ist noch unklar. Das Uno-Büro für Menschenrechte kündigte an, eine Beobachtergruppe zu entsenden. Die Experten sollen sich einen unabhängigen Eindruck verschaffen.
Dann beginnen die Besatzer Ukrainerinnen und Ukrainer als russische Staatsbürger zu registrieren. Alle erhalten einen russischen Pass. Männer werden in die Armee gezwungen, um gegen das eigene Volk zu kämpfen. Vitali kann nicht länger warten: Über einen Freund organisiert er 10'000 Rubel, umgerechnet 160 Franken. Am 26. September steht er an der russischen Grenze und wagt die Flucht – durch Feindesland.
Über der Schulter trägt er eine Tasche mit Kleidern, Tablet, Handy, Kopfhörer und Playstation-Controller. Die Grenzwächter fragen, wohin er möchte. «Zu meiner Tante in Tambow», antwortet Vitali. Die Tante existiert nicht. Die Wächter winken ihn durch. Danach reist er mit der App Blablacar. Über sie findet er Russen, die ihn im Auto mitnehmen. «Durch die russischen Nummernschilder war ich getarnt.»
Unaufspürbare Plastik-Minen
Er fährt zwei Tage ohne Unterbruch. Immer wieder wechselt er das Auto. Vitali ist halb Russe und halb Ukrainer. Er spricht einwandfrei Russisch, gibt sich aber immer als Ukrainer zu erkennen.
Die Fahrer sind immer Russen. Sofort beginnen sie über den Krieg mit ihm zu sprechen. Und alle befürworten ihn. «Russland hat die beste Armee der Welt. Die Ukraine wird von den Faschisten befreit», sagen sie. Vitali mag nicht diskutieren und setzt seine Kopfhörer auf. Seine Reise führt ihn über Moskau an die Grenze zu Lettland. Auch dort hat er Glück. Die Grenzwächter geben ihm einen Stempel, ohne ihn zu befragen.
Anfang September gelangt er in die Schweiz nach Neukirch TG am Bodensee. Zwei Wochen später rollt die ukrainische Gegenoffensive. Seine Heimatstadt Woltschansk wird bald befreit. Vitali ist euphorisch, will aber nicht zurück: «Wälder, Felder, Strassen und sogar Flüsse sind vermint. Die Minen bestehen aus Plastik und Keramik – mit einem Metalldetektor nicht aufspürbar.»
Jetzt will er in der Schweiz arbeiten, um Geld für Essen, Munition und Waffen in die Heimat zu senden. Er ist dem Krieg entkommen, jedoch nur physisch.
Vitali bleibt.