«Es gibt niemanden mehr, sie sind alle weggelaufen!» Diesen Satz sagte der Militärgouverneur von Luhansk, Sergij Gayday (46), nachdem die russischen Truppen in den vergangenen Tagen fluchtartig mehrere Städte und Dörfer in der Ostukraine verlassen hatten. Panzer, Munition und andere Waffen – weil die ukrainische Armee mit ihrem Angriff überraschte, blieb den Besatzern nichts anderes übrig, als das meiste Material zurückzulassen.
Nach Einschätzung britischer Geheimdienste sind führende Einheiten der russischen Armee massiv geschwächt. Insbesondere in der Anfangsphase des Krieges habe es schwere Verluste gegeben, von denen sich die Truppen nie erholt hätten. Betroffen sei zum Beispiel die Erste Gardepanzerarmee. Teile dieser Einheit, die zu den prestigeträchtigsten des russischen Militärs gehört, haben sich gemäss den Briten aus der Region Charkiw zurückgezogen.
«Es reicht nicht mehr»
«Die russische Armee hat gar keine nennenswerten frontverwendungsfähigen Reserven mehr», sagt auch Strategieexperte Mauro Mantovani (59) von der ETH-Militärakademie. Es laufe eine landesweite Rekrutierungskampagne, zu der die 85 Provinzen, die in Russland Föderationssubjekte genannt werden, Freiwilligenverbände beisteuern sollen. So seien zwar einige Bataillone entstanden, einige weitere dürften folgen. Mantovani: «Aber es wird nicht reichen, um die Initiative im Ukraine-Krieg zurückzugewinnen.»
Eine Generalmobilmachung sei für den russischen Präsidenten Wladimir Putin (69) keine Option, meint Mantovani, da er damit «seine eigene Propaganda von der angeblich planmässig verlaufenden Spezialoperation demaskieren» und die angeschlagene Wirtschaft weiter schwächen würde. Zudem: Die Einheiten ohne Kampferfahrung würden an der Front grosse Verluste erleiden, die latenten sozialen Spannungen im Russland würden eskalieren.
Mitte Woche haben die Russen in Krywyj Rih mit Raketen einen Staudamm beschädigt. «Moskau hat kaum noch Alternativen zum Fernbeschuss, um Kiew unter Druck zu setzen», sagt Mantovani. Da Präzisionsmunition und Zielaufklärung fehlten, könnten die Russen nur grossflächige Ziele beschiessen.
Es dauert noch Monate
Mit den jüngsten Erfolgen der Ukrainer ist der Wendepunkt im Krieg definitiv erreicht, meint der Militärstratege. Dass der Krieg entschieden sei, könne man aber noch nicht sagen. Mantovani ist zwar davon überzeugt, dass Russland seine Kriegsziele in der Ukraine nie mehr erreichen wird – aber auch davon, dass der Abnützungskrieg noch einige Monate weitergeht.
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«Entschieden ist der Krieg also insofern, als der ukrainische Staat und eine kampffähige Armee fortbestehen werden, aber nicht insofern, als die Russen sich sofort aus allen Gebieten zurückziehen.»
Jahrzehnte lang überschätzt
Nach fast sieben Monaten Krieg bilanziert Mantovani: «Der Westen hat die russische Armee überschätzt, und dies wohl seit Jahrzehnten.» Moskau verfüge über keine modernen Streitkräfte, die komplexe Operationen und die hybride Kriegsführung beherrschten. Mantovanis Einschätzung: «Die Russen haben starkes Artilleriefeuer und können sehr gut geradeaus fliegen, marschieren und schiessen – viel mehr aber nicht.»
Ihr Nimbus als schlagkräftige Offensivarmee sei auf Jahrzehnte hinaus zerstört, ebenso ihr Bekenntnis zum Völkerrecht. Vielleicht sei die Armee in zehn Jahren wieder stark genug, um einen kleinen Nachbarn zu überfallen und zu besetzen, meint der Militärstratege.
Übrig bleibe das ballistische und nukleare Drohpotenzial, das qualitativ mit Nordkorea vergleichbar sei. Mantovani aber ist überzeugt: «Dass die russische Armee die Nato ernsthaft herausfordern kann, werden wir nicht mehr erleben.»