Weil Putin für den Krieg in der Ukraine die Soldaten fehlen
Russen droht neue Mobilisierungswelle

Putin steckt im Dilemma: Er braucht mehr Soldaten, kann aber nicht offen rekrutieren. Deshalb geht er neue Wege.
Publiziert: 15.01.2023 um 00:38 Uhr
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Aktualisiert: 15.01.2023 um 11:14 Uhr
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Putin braucht weitere Soldaten, um die Lage in den annektierten Gebieten zu stabilisieren.
Foto: IMAGO/SNA
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Robin BäniRedaktor

In der russischen Militärdoktrin gilt der Soldat in erster Linie nicht als Mensch, sondern als Ressource – Nachschub für den Fleischwolf einer gnadenlosen Kriegsführung. Wenn Wladimir Putin in den kommenden Wochen wirklich die erwartete Grossoffensive starten, die Lage im annektierten Donbass stabilisieren und am Sturz von Wolodimir Selenskis Regierung festhalten will, bräuchte er bedeutend mehr Truppen. In Russland kursieren deshalb Gerüchte über eine bevorstehende zweite Mobilisierungswelle. Sogar von Generalmobilmachung ist die Rede.

Mit welcher Härte der Krieg geführt wird, zeigen Bilder aus der ostukrainischen Stadt Bachmut: Zerfetzte Bäume ragen in den Himmel, leblose Körper liegen herum. Wälder sind zur Kraterlandschaft geworden, Wohngebiete zur Todeszone. Seit Wochen stürmen und sterben russische Soldaten bei Angriffen auf ukrainische Stellungen. Unter starker Mitwirkung von Söldnern soll es laut Russland gelungen sein, die nahe gelegene Stadt Soledar zu erobern. Die Ukraine dementierte.

Tausende Tote und kaum Geländegewinne

Stimmen die Behauptungen aus Moskau, wäre das ein taktischer Erfolg, wie das Institute for the Study of War (ISW) in Washington feststellt – aber letztlich wohl ein Pyrrhussieg: Wenige Kilometer westlich stehen bereits die nächsten ukrainischen Verteidigungswälle. Inmitten des Kriegsgeschehens sind Verlustzahlen nicht verifizierbar, doch der Blutzoll dürfte auf beiden Seiten gewaltig sein. Vorläufige Bilanz: Tausende Tote und kaum Geländegewinne.

Zu Neujahr wandte sich der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow direkt ans russische Volk: «Ich weiss genau, dass ihr noch eine Woche habt.» Dann werde die nächste Mobilmachung beginnen. Als Stichtag galt der 5. Januar, doch der Kreml reagierte nicht. Nun kursiert der 15. Januar als mögliches Datum, sprich: heute.

Doch dass Putin dies öffentlich bestätigt, halten Beobachter für unwahrscheinlich. Dadurch würde er die Vorhersage aus Kiew bestätigen und Resnikows Autorität stärken. Dem ukrainischen Verteidigungsminister wiederum ist weniger an einer präzisen Datumsangabe gelegen als daran, den Gegner zu verunsichern. Seine Ansprache wurde nicht zufällig auf der Plattform Youtube veröffentlicht, die in Russland nicht blockiert ist. Resnikow muss bewusst sein: Nur Putin entscheidet, ob und wann er eine weitere Mobilmachung verkündet.

Putin steckt im Dilemma

Aus militärischer Sicht allerdings wäre es höchste Zeit, wie die herben Niederlagen in Charkiw und Cherson bewiesen haben. Bald jährt sich der Beginn der Invasion, Putin braucht immer dringlicher nachweisbare Erfolge. Die Einnahme von Soledar wäre dafür militärtaktisch zu unbedeutend.

Die Russen haben mit vielem zu kämpfen, seien es mangelnde Ausrüstung oder schrumpfende Munitionsbestände. Nur Soldaten hätten sie theoretisch genug. Die Ukrainer können ungefähr eine Million Reservisten mobilisieren – Russland stünden 30-mal so viele zur Verfügung. Für Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen, scheint klar: Putin steckt in einem Dilemma. «Er braucht mehr militärisches Personal, kann es aber nicht offen rekrutieren.» Die massenhafte Flucht nach der Mobilmachung am 21. September habe gezeigt: «Viele sind nicht bereit, für Russland zu sterben.» Putin müsse vermeiden, die Gesellschaft weiter gegen sich aufzubringen.

Zu Beginn der Invasion behauptete der Kreml, russische Mütter müssten nicht um das Leben ihrer Söhne bangen: «In der Ukraine kämpfen nur Profis.» Nach der Teilmobilmachung im Herbst hiess es dann, die eingezogenen Reservisten genügten. Schmid meint: «Für eine weitere Mobilmachung oder sogar Generalmobilmachung müsste Putin eine drohende Niederlage eingestehen. Und das fürchtet er wie der Teufel das Weihwasser.»

Männer auf der Strasse brutal verhaftet

Doch auf Grundlage des Dekrets zur Mobilmachung vom 21. September kann Russlands Militär weiterhin verdeckt Reservisten einziehen. Der entsprechende Erlass ist zeitlich nicht begrenzt und kann nur durch ein weiteres Dekret aufgehoben werden – das Putin aber nicht erlassen hat. Die Behörden kündigten unterdessen lediglich eine Pause des Mobilisierungsprozesses an, um zwischen dem 1. Oktober und 31. Dezember die Einziehung von Wehrpflichtigen abzuwickeln. Die Mobilisierungszentren waren nicht in der Lage, beide Prozesse gleichzeitig zu bewältigen.

Dazu Maria Kuznetsowa, Sprecherin der Menschenrechtsorganisation OVD-Info: «Jetzt steht einer vollständigen Wiederaufnahme der Mobilisierung nichts im Weg.» Die sogenannte «zweite Mobilmachung» werde sich in stark steigenden Zahlen ausdrücken. Im Prinzip, so Kuznetsowa weiter, seien aber seit Beginn der ersten Welle durchgehend Reservisten eingezogen worden: «Wir wissen von einigen Fällen, vor allem im Dezember, als Männer auf der Strasse brutal verhaftet und in Mobilisierungszentren gebracht wurden – sogar in Moskau.»

Dem Machthaber im Kreml ist bewusst, dass sich nicht von unabhängiger Seite kontrollieren lässt, ob nun – wie angekündigt – 300’000 Reservisten oder letztlich 600’000 eingezogen wurden. Zwar braucht er dringend mehr Soldaten. Aber eine zweite Mobilisierungswelle wird er nicht gross ankündigen, sondern einfach durchführen.

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