Darum protestieren Russen kaum gegen den Krieg
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«Konfrontation bringt nichts»:Darum protestieren Russen kaum gegen den Krieg

Dissidentin Maria Kuznetsowa (24) kämpft gegen Putin
«Im Knast werden Kritiker zu Helden»

Putin bleibt an der Macht, solange sich niemand widersetzt. Menschen wie Maria Kuznetsowa bieten ihm die Stirn. Doch die Formen ihres Widerstands haben sich verändert.
Publiziert: 12.11.2022 um 20:29 Uhr
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Massenprotest in Moskau nach Mobilisierung am 21. September.
Foto: Getty Images
Robin Bäni

Sie kann nicht nach Russland zurück. Das wäre zu gefährlich. Maria Kuznetsowa (24) lebt jetzt in Georgien. Während des Videointerviews sitzt sie an einem Holztisch. Neben ihr ein Gasherd. Hinter ihr ein Ikea-Bild. Die russischen Behörden haben sie mehrmals festgenommen, ihre Wohnung durchsucht, ihren Arbeitsplatz durchwühlt. Der Inlandsgeheimdienst FSB verhörte sie stundenlang.

Ihre Freunde – bekannte Oppositionelle wie Andrej Piwowarow, Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa – wurden eingesperrt und gefoltert. Gegen Maria liegt eine Anzeige vor, weil sie einer «unerwünschten Organisation» angehört. Sie arbeitet als Sprecherin für OVD-Info, eine russische NGO, die Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und politischen Gefangenen hilft.

Warum protestieren so wenige Russen gegen den Krieg?
Maria Kuznetsowa: Viele glauben nicht mehr, dass Protest etwas nützt. Sie haben bereits letztes Jahr demonstriert, als Alexei Nawalny festgenommen wurde. Das hat zu nichts geführt. 2011 und 2012, nachdem Putin ins Präsidentenamt zurückkehrte, gab es riesige Proteste. Auch das hat nichts verändert. Es gibt aber neue Formen des Widerstands. Immer mehr Leute boykottieren ihre Arbeit. Es gibt auch eine Ärztebewegung, die Atteste ausstellt, damit die Leute zu Hause bleiben können.

Wenn niemand demonstriert, bleibt Putin an der Macht.
Niemand ausserhalb von Russland hat das Recht, den Russen zu sagen, was sie tun sollen. Sie teilen nicht deren Risiken.

Dennoch: Keiner geht auf die Strasse...
Das stimmt nicht. Wir wissen von mehr als 2500 Personen, die seit Beginn der Mobilisierung festgenommen wurden. Die meisten davon sind Frauen – genau 1775, also 71 Prozent. Männer bleiben meist zu Hause, weil sie zur Strafe in den Krieg geschickt werden.

Im Westen bekommt man davon wenig mit.
Weil es kaum noch Massenproteste gibt. Bei grossen Kundgebungen werden viele geschlagen und ins Gefängnis geworfen. Deshalb finden die Proteste nun dezentralisiert statt. Die Leute stehen irgendwo alleine, vielleicht mit einem Transparent. So ist es für die Polizei schwieriger, alle festzunehmen.

Wer organisiert das?
Niemand. Alle Organisationen, die früher Demonstrationen planten, sind zerschlagen. Alle, die früher Proteste angeführt haben, sind im Knast oder im Exil. Die Anti-Korruptions-Stiftung von Nawalny, die demokratische Bewegung Vesna oder Open Russia: Sie alle wurden aufgelöst.

Laut einer Umfrage von Levada, dem einzigen unabhängigen Institut für Meinungsforschung in Russland, unterstützten im Oktober 73 Prozent der Bevölkerung den Krieg.
In einem autoritären Staat gibt es keine wahrheitsgetreuen Umfragen. Wir sollten nicht auf Zahlen achten, sondern auf Tendenzen. Und die Tendenz ist, dass die Unterstützung für das Regime abnimmt. Aber wir müssen uns bewusst sein: Jeweils nur eine Minderheit befürwortet oder missbilligt den Krieg entschieden. Die meisten stehen irgendwo dazwischen.

Persönlich

Maria Kuznetsowa (24) kam in Sibirien zur Welt, in der Industriestadt Novokuznetsk. Sie studierte in Moskau Internationale Beziehungen, an der Elite-Uni für Diplomaten. Dort wurde ihr bewusst, wie autoritär Putins Regime ist. Deshalb begann sie für NGOs zu arbeiten und versuchte Wahlbetrug zu verhindern oder zumindest aufzudecken. Jetzt ist sie Sprecherin von OVD-Info, einer Menschenrechtsorganisation. Und kämpft gegen Putin.

Maria Kuznetsowa (24) kam in Sibirien zur Welt, in der Industriestadt Novokuznetsk. Sie studierte in Moskau Internationale Beziehungen, an der Elite-Uni für Diplomaten. Dort wurde ihr bewusst, wie autoritär Putins Regime ist. Deshalb begann sie für NGOs zu arbeiten und versuchte Wahlbetrug zu verhindern oder zumindest aufzudecken. Jetzt ist sie Sprecherin von OVD-Info, einer Menschenrechtsorganisation. Und kämpft gegen Putin.

Wir sprechen immer von Putins Krieg. Trägt nicht auch die russische Bevölkerung eine Mitschuld?
Natürlich gibt es Leute, die den Krieg begrüssen. Das liegt an der Propaganda und an der Zensur. Die älteren Generationen informieren sich nur über den Fernseher. Mehr als 140'000 Internetseiten sind gesperrt. Aber viele Menschenrechtsorganisationen haben jahrelang über die Entwicklungen in Russland berichtet und davor gewarnt. Nehmen wir als Beispiel die Parlamentswahlen im vergangenen Jahr. Schon da hatten wir das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Die Repressionen waren massiv. Viele Organisationen wie Memorial wurden verboten. Wegen der Wahlen allein wäre das nicht nötig gewesen.

Haben Sie mit einem Krieg gerechnet?
Nein. Aber wir wussten, dass uns etwas Schlimmes droht.

OVD-Info will der Repression in Russland ein Ende setzen. Aktuell scheint das unrealistisch.
Ja, das stimmt. Aber unser Ziel ist, dass niemand mit dem System alleingelassen werden soll.

Wie versucht Ihre Organisation zu helfen?
Wir haben eine Hotline und einen Telegram-Bot, ein Computerprogramm, das automatisch antwortet. Wir machen auch Rechtsberatung und entsenden Anwälte in mehr als 50 Regionen Russlands. Das hilft tatsächlich. Die Polizisten halten Essen zurück, verweigern die Toilette oder entreissen Festgenommenen das Smartphone. Mit Anwälten vor Ort gibt es weniger Verstösse. Denn die Polizei hat Angst vor Anwälten.

Warum sollte die Polizei Anwälte fürchten?
Sie geben Informationen an uns weiter und wir veröffentlichen alles. Die Medien sind das Einzige, was in einem autoritären Regime hilft. Denn die Gesetze nützen nichts – vor allem in entlegenen Gebieten. Die Polizisten dort sind öffentliches Interesse nicht gewohnt. Teils rufen wir dazu auf, die Polizei ununterbrochen anzurufen. Manchmal sind sie dann so genervt, dass sie sagen: «Okay, wir tun alles, was ihr wollt. Aber hört damit auf!» Russland ist gross. Der lange Arm des Kreml hat nicht alles im Griff.

Alle unabhängigen Medien in Russland wurden zerschlagen. Wie kommt es, dass OVD-Info noch existiert?
Wir besitzen keinen legalen Rechtsstatus. Eigentlich waren wir Teil von Memorial, der Organisation, die 2022 den Friedensnobelpreis gewonnen hat. Wir teilten das Bankkonto und die Büroräume. Aber 2021 hat Putin Memorial liquidiert. Seither gibts nichts mehr, das er auflösen könnte. Uns helfen über 7000 Freiwillige aus aller Welt. Gegen ein derart dezentralisiertes System vorzugehen, ist unmöglich. Die meisten von uns verstecken ihr Gesicht. Nur unsere Anwälte erhalten manchmal Strafanzeigen.

Wie viele sind im Gefängnis?
Niemand.

Niemand?
Der Regierung ist es lieber, wenn Oppositionelle emigrieren. Sitzen sie im Gefängnis, werden sie zu Helden. Jeder kennt Alexei Nawalny. Der zweite Grund ist: Ein politischer Gefangener ist für das System wie ein Fluch. Viele Gefängnisdirektoren haben einen Aktivisten eingesperrt, sitzen nun selbst in einer Zelle. Denn der Aktivist konnte aufdecken, wie korrupt sie sind.

Wie können Aktivisten im Gefängnis Verstösse aufdecken?
Sie haben Anwälte. Anwälte dürfen Gefängnisse betreten. Das ist der Hauptgrund. Aber Gefangene dürfen auch per Festnetz telefonieren. Natürlich können die Wärter die Leitung blockieren, wenn sie glauben, dass man etwas Unangemessenes sagt. Aber manchmal sind sie abgelenkt oder haben andere Dinge zu tun. Dann können die Inhaftierten darüber sprechen, was vor sich geht.

Wie kann OVD-Info dazu beitragen, den Krieg zu beenden?
Wir beschützen die Bürger. Dank uns ist es weniger gefährlich zu protestieren. Wir garantieren, dass die Menschen zumindest Hilfe bekommen und gehört werden.

Glauben Sie, dass Russland jemals wieder ein freies Land sein wird?
Das würde bedeuten, dass es einmal frei war – eine Frage für sich. Viele in Russland, insbesondere in den Grossstädten, unterstützen demokratische Werte. Aber die meisten scheinen gleichgültig. Sie befinden sich in einer Spirale des Schweigens. Wir wissen nicht, was sie denken. Die Zukunft ist schwer vorauszusagen.

Das klingt nicht ermutigend.
Es tut mir leid: In einer Diktatur gibt es keine guten Antworten.

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