«Ich habe den Krieg verschlafen», sagt Ivan* (24) am Telefon und lacht bitter. Der Tod begegnete ihm bisher nur am Bildschirm. Jetzt denkt er an seinen eigenen und weiss nicht, was er fühlt. Am Mittwochmorgen weckte ihn seine Mutter und verlangte den Pass. Er solle sofort einen Flug buchen, zu seinem Vater in Jerewan, der Hauptstadt Armeniens. Kurz zuvor hatte Wladimir Putin (69) eine Teilmobilisierung per Dekret verkündet – und sein Land damit ins Chaos gestürzt.
Putin hatte den Müttern am 8. März versprochen, dass ihre Söhne zu Hause bleiben. In der Ukraine sollten ausschliesslich Berufssoldaten kämpfen.
Doch mittlerweile haben Zehntausende Russen auf den Schlachtfeldern ihr Leben gelassen – die Ukraine beziffert die Zahl der getöteten Feinde mit 55'000. Putin muss dem Fleischwolf des Krieges im Nachbarland Nachschub liefern: Der Kreml spricht von 300'000 Reservisten. Erste Busse an die Front seien bereits unterwegs. Die Nachricht schoss durch alle Newsportale, alle Telegram-Chats. Dann folgte die Frage: Wer ist davon betroffen?
Als Reservist gilt, wer ein Jahr Militärdienst geleistet hat und mindestens 27 Jahre alt ist.
Ivan hat Glück
Beides trifft nicht auf Ivan zu. Dennoch will er fliehen. «Ich wollte bereits früher nach Armenien. Aber irgendwie dachte ich immer, dass schon alles bald endet. Jetzt sehe ich, dass Putin nicht aufhört. Früher oder später wird er auch Leute wie mich einziehen», fürchtet Ivan. Er ist privilegiert, vielen fehlt das Geld für eine Flucht.Putin machte klar: Die gesamte Russische Föderation ist betroffen. Sein Dekret ist bewusst breit formuliert. Verteidigungsminister Sergej Schoigu (67) hat einen grossen Handlungsspielraum. Letztlich entscheidet er, wie viele Menschen aus welcher Region in den Krieg geschickt werden.
Wer die Militärausbildung der Reservisten auffrischen soll, bleibt ebenfalls offen. Unklar ist auch, ob die Russen überhaupt die nötigen Ressourcen haben, um 300'000 Männer professionell auszurüsten. Putin-treue Militärblogger jedenfalls sorgen sich. Beim Messengerdienst Telegram kursieren Packlisten für die Mobilisierten. Mitbringen sollen sie unter anderem Wintermäntel, schusssichere Westen, Erste-Hilfe-Koffer, Dosenöffner und «Markenschuhe, wenn die Finanzen es erlauben».
«Vor Ort wird man euch nichts geben!», warnt der in Russland populäre Militärblogger «Der 13te». Sein durchaus ernst gemeinter Tipp: «Nehmt Loperamid mit (ein Medikament gegen Durchfall; Anm. d. Red.), damit ihr euch wegen des ungewohnten Essens und der unhygienischen Bedingungen nicht in die Hosen macht.»
Andrej* (27) verfolgte Schoigus Rede auf dem Smartphone und wusste sofort, dass er gemeint ist. «Ich bin 27 und war vor nicht allzu langer Zeit beim Militär. Ich bin ausgebildet, Flugzeuge und Raketen abzuschiessen. Solche Leute brauchen sie dringend.» Und: «Es fehlt an Artilleristen.»
Die verzweifelte Suche nach einem Ausweg
Um der Mobilisierung zu entkommen, versteckt er sich in der Wohnung einer Freundin, die bereits geflohen ist. Andrejs Job gilt als systemrelevant. Sein Arbeitgeber meinte, er solle die Personalabteilung kontaktieren, sobald er den Marschbefehl erhalte. Als letzten Ausweg sieht er Gewalt: «Wenn sie mich holen, attackiere ich sie mit einer Axt. Ich muss dann für drei Jahre ins Gefängnis. Verweigere ich den Kriegsdienst, erhalte ich fünf bis zehn Jahre.»
Die Flucht ist für ihn keine Option: «Ich liebe Russland und ich will nicht in irgendeinem Hangar mit anderen Flüchtlingen leben. Ich habe Angst, aber ich werde meine Lebensweise nicht wegen eines Tyrannen ändern, der versucht, irgendwo Krieg zu führen.»
Die russischen Militärkommissare werden Andrej suchen. Wie energisch sie dies tun, weiss niemand. In der Russischen Föderation hat es noch nie eine Mobilisierung gegeben. Daher ist nicht bekannt, wie sie in der Praxis abläuft.
Viele Russen wandten sich an Leute wie Pavel Chikov (44), ein Anwalt der russischen Menschenrechtsgruppe Agora. Sie wollten wissen, ob sie in den Krieg müssen und falls ja, was sie dagegen tun können. Bereits am Donnerstag vermeldete Chikovs zwölfköpfiges Anwaltsteam mehr als 10'000 Anfragen. Man versucht, die Betroffenen zu orientieren, aber die Informationslage bleibt chaotisch.
Ein Militäranwalt von der Koalition russischer Menschenrechtsverteidiger, der anonym bleiben möchte, schlussfolgert: «Es ist unmöglich zu entscheiden, was am besten ist: auswandern, sich verstecken oder einen Antrag an das Militärregistrierungsamt stellen. Jede Person in den Reserven kann zu den Truppen geschickt werden. Es gibt kein Recht, nicht kämpfen zu müssen.»
Bereits vor Putins Rede gingen in den sozialen Netzwerken Gerüchte über eine Mobilmachung um. Die Menschen teilten jeden noch so kleinen Tipp, mit dem sich eine Einberufung angeblich hinauszögern lässt. Ein besonders prominenter Hinweis betraf das Portal «Gosuslugi», über das in Russland Teile der Bürokratie abgewickelt werden. «Ich habe meine Einstellungen geändert. Jetzt kann mir das Militärkommissariat nur per Post eine Vorladung schicken», sagt Ivan. Das soll Zeit zur Flucht verschaffen. Solange man keine Vorladung erhalten hat, darf man Russland verlassen. Als Andrej sein Profil auf «Gosuslugi» öffnete, war die Funktion bereits abgeschaltet. Später erklärte der Kreml, dass Vorladungen stets persönlich ausgehändigt werden sollen.
Chaotische Mobilisierung
Die Mobilisierung offenbare ein ineffizientes bürokratisches System, urteilt das American Institute for the Study of War. Voraussichtlich werde es nicht gelingen, die notwendige kampfbereite Reserve in kurzer Zeit bereitzustellen.
Das zeigt sich auch im Durcheinander um Reiseverbote für Reservisten. In Moskau gab es bisher keine Verbote. 1000 Kilometer weiter östlich, in der Republik Tatarstan, gab es zunächst ein Ausreiseverbot, dann wurden alle Verbote aufgehoben. In Samara im Südosten des europäischen Russland durften Reservisten ihren Distrikt nicht verlassen. Doch dann lockerten die Militärkommissare die Einschränkungen und erlaubten Reisen innerhalb der Russischen Föderation. In St. Petersburg schickten die Behörden eine Vorladung an einen Mann, der seit neun Jahren tot ist.
Auch die Regeln dafür, wer in den Krieg soll, werden laufend revidiert. Zuerst hiess es, Studenten könnten ebenfalls betroffen sein. Dann behauptete Dmitri Peskow (54), Putins Pressesprecher, Studenten müssten nicht in die Ukraine.
Erst am Freitag wurde bekannt, dass gewisse Berufsgruppen ausgenommen sein sollen, darunter IT- und Kommunikationsspezialisten. Sogar die maximale Anzahl an betroffenen Reservisten ist umstritten. Das oppositionelle Nachrichtenportal «Meduza», das im Ausland operiert, will aus Regierungskreisen erfahren haben, dass 1,2 Millionen Reservisten eingezogen werden sollen. Der Kreml bezeichnete dies als Lüge.
Die Lage bleibt unübersichtlich
Die widersprüchlichen Informationen machen eine Einschätzung schwierig, was gilt und was tatsächlich geschieht. Aber auch wer über seine Rechte informiert ist, fühlt sich nicht sicher. «Ich glaube inzwischen nichts mehr, denn Putins Regierung ist bekannt für ihre Lügen», sagt Fjodor* (29), während er unterwegs nach Adler ist, einer Stadt am Schwarzen Meer. Von dort will er mit dem Auto die georgische Grenze überqueren. Fjodor und viele Russen befürchten eine willkürliche Verteilung der Einberufungen. Inzwischen kursieren Videoaufnahmen von Männern, die in Busse gezwängt werden. In der ostsibirischen Region Burjatien sollen Männer in der Nacht aus ihren Häusern gezerrt worden sein. «70 Männer, die nie Militärdienst geleistet haben, wurden aufgefordert, zum Militärkommissariat zu gehen», behauptete Alexey Tsydenov, Leiter der Republik Burjatien. Tsydenov gilt keineswegs als Gegner der Mobilisierung. Er wollte lediglich auf eine vermutete Panne hinweisen.
Fjodor hofft, eines Tages in die Ukraine gehen zu können, um beim Wiederaufbau der zerstörten Städte zu helfen. Aber noch blickt er düster in die Zukunft: «Es scheint, dass Putin bereit ist, bis zum letzten Russen zu kämpfen. Wir haben es nicht geschafft, ihn zu stoppen. Die russische Gesellschaft ist gescheitert.»
* Namen geändert