Über den Schirm flimmern Bilder zerbombter Städte, Berichte des Leidens, der Flucht. Vesta Brandt (36) und ihre Tochter Eva (14) kauern auf dem Sofa und vergraben ihre Gesichter in den Händen. Neben ihnen drei Koffer, ihr letztes Hab und Gut. Alles, was sie vor Putins Angriff retten konnten – in diese kleine Wohnung im Zentrum Biels.
Weit über 2,5 Millionen Menschen haben die kriegsversehrte Ukraine bereits verlassen. Die Vereinten Nationen sprechen von der «am schnellsten wachsenden Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg». Die meisten Vertriebenen harren ennet der Grenze aus, in Polen, in der Slowakei, in Ungarn, Rumänien oder Moldawien. Noch hoffen viele auf ein baldiges Ende des Krieges – und auf die Rückkehr.
Eine Etage höher im Bieler Wohnhaus sind Vesta Brandts beste Freundin Olga Plastun (28), deren Mutter Valentina (62) und Grossmutter Eugenia Dubrowska (84) einquartiert. Drei Generationen sind gemeinsam geflüchtet. Olga Plastun sagt: «Wir haben alles verloren.» Was bleibt, ist die Furcht vor den russischen Bomben. Als ein Flugzeug über Biel donnert, zucken die Frauen zusammen.
Immerhin haben sie hier ein Dach über dem Kopf, Strom, fliessend Wasser, Essen. Sicherheit. All dies dank Andreas Gosch (54), ein Bieler Unternehmer, der häufig beruflich in der Ukraine weilte, und seiner Tochter Diana (17), die mit Olga befreundet ist. «Letzte Woche sagte meine Tochter: ‹Papi, jetzt musst du etwas tun!›», erzählt Andreas Gosch.
Er trommelte Freunde und Familie zusammen, sammelte Geld und Mobiliar. Zwei Kollegen fuhren an die Grenze, um die Frauen abzuholen. Ein Bekannter stellte zwei leer stehende Wohnungen zur Verfügung, Kolleginnen unterstützen sie bei Behördengängen, zeigen ihnen die Stadt, andere spenden Geld.
Die genauen Zahlen kennt niemand
Derweil erreichen immer mehr Vertriebene die Schweiz – vor allem Frauen und Kinder. Bis Samstag haben sich nach offiziellen Angaben rund 2800 Flüchtende in den Bundesasylzentren registriert. Rund zwei Drittel von ihnen sind dort untergebracht, ein Drittel bei Privatpersonen. Die tatsächlichen Zahlen dürften wesentlich höher liegen, da Ukrainerinnen und Ukrainer visumsfrei einreisen und sich 90 Tage in der Schweiz aufhalten dürfen.
Bis zu 60'000 Menschen könnten hierzulande Zuflucht suchen, sagte Justizministerin Karin Keller-Sutter am Donnerstag im Interview mit Blick TV. Die Aufnahme der Flüchtlinge werde sicher nicht reibungslos ablaufen, so die Bundesrätin und bat um Verständnis. «Es kann zu Fehlern und Pannen kommen.»
Erste private Flüchtlingshelfer kritisieren bereits die «umständliche Registrierung». Der Bieler Unternehmer Andreas Gosch sagt: «Die Anmeldung in der Schweiz wird den Flüchtenden unglaublich schwer gemacht und die Behörden verweisen sie von einem Amt zum anderen, es ist ein regelrechter Spiessrutenlauf.» Dass die Behörden gefordert sind, zeigt sich auch bei der Unterbringung der Geflüchteten. Die Kapazität der Asylzentren beläuft sich derzeit auf 5000 Personen. Davon sind 80 Prozent, also 4000, bereits belegt. Im Notfall könne die Zahl der Plätze auf 9000 erhöht werden, sagt die Staatssekretärin für Migration, Christine Schraner Burgener, im Interview mit SonntagsBlick.
Angesichts des Flüchtlingsstroms dürfte dies jedoch bei weitem nicht reichen. In Basel, Bern, Genf, Lausanne VD und Zürich werden derzeit Jugendherbergen, Hotels, Kasernen, ja sogar Spitäler zu Notunterkünften umfunktioniert. Das Genfer Dreisternehotel Bel’Espérance etwa, fünf Minuten vom See entfernt, beherbergte während der Corona-Krise bereits obdachlose Frauen. Nun stellt Hoteldirektor Alain Meuwly seine Zimmer Ukraine-Flüchtenden zur Verfügung.
Das Hotel gehört der Heilsarmee, wird aber kommerziell betrieben. Für gewöhnlich zahlen Gäste 120 bis 300 Franken pro Nacht. Nun übernehmen die Genfer Sozialdienste die Kosten. Wie lange das Hotel zum Empfangszentrum umfunktioniert bleiben wird, ist unklar. Meuwly: «Wir helfen so lange wie nötig.» Landesweit sei die Solidarität in der Branche gross, sagt Vinzenz van den Berg von Hotelleriesuisse. Viele Hotels seien bereit, Geflüchteten Obdach zu gewähren.
71'000 Wohnungen wären frei
Gleichzeitig rufen die Verbände der Immobilienbranche sowie der Vermieterinnen und der Mieter ihre Mitglieder dazu auf, Wohnraum, der derzeit nicht genutzt werde, für Schutzsuchende aus der Ukraine bereitzustellen. Davon gibt es massenweise: Mehr als 71'000 Wohnungen und Häuser stehen hierzulande leer. Viele Besitzer solcher Immobilien seien denn auch bereit, sie für Geflüchtete zur Verfügung zu stellen, erklärt das Bundesamt für Wohnungswesen.
So viel Hilfsbereitschaft muss koordiniert werden. Wer Vertriebene aufnehmen will, kann über die Website der Kampagnenplattform Campax oder auch bei der Flüchtlingshilfe ein Zimmer anbieten. Ob Hilfsbereite dafür finanziell entschädigt werden, ist den Kantonen überlassen. Aber auch das SEM nimmt mit jedem potenziellen Gastgeber im Vorfeld Kontakt auf.
«Die Begleitung von Gastfamilien wird professionell gemacht», betont Eliane Engeler, Sprecherin der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. «Gastfamilien und Geflüchtete haben eine Ansprechperson, die sie jederzeit kontaktieren können.» Vulnerable Personen, unbegleitete Minderjährige oder Geflüchtete mit spezifischen gesundheitlichen Bedürfnissen werden nicht an Privathaushalte vermittelt.
In den Bundesasylzentren kümmert sich die Flüchtlingshilfe im Auftrag des Staatssekretariats für Migration (SEM) um die Platzierung der Vertriebenen. «Für die Vermittlung in Privatunterkünfte wird zukünftig pro Bundesasylzentrum ein Team von rund zehn Leuten im Einsatz stehen, die einen Betrieb die ganze Woche gewährleisten», sagt Engeler. Zusätzlich sind Dolmetscher angestellt.
Andreas Freimüller ist Geschäftsführer der Kampagnenplattform Campax. Er sagt: «Die Mitarbeitenden telefonieren sich gerade die Finger wund. Über 19 000 Haushalte haben sich registriert, Hunderte Hotels haben ihre Hilfe angeboten.» Insgesamt stehen für die Flüchtenden fast 50'000 Betten bereit. Schon jetzt zeigt sich: Ohne private Helfer wäre der Bund heillos überfordert.
Telefonieren und banges Warten
Eine dieser Helferinnen ist Oksana Mathieu (44). Sie gehört zur ukrainischen Diaspora in der Schweiz, die rund 11'000 Menschen zählt. Ihr Zuhause in Olten SO ist seit Dienstag auch das Refugium ihres Bruders Slawa Bannikow (37) und dessen Frau Angela (32). Als das Ehepaar vor zwei Wochen aus der Heimat in die Ferien fuhr, wusste es noch nicht, dass es ein Abschied auf unbestimmte Zeit werden würde: Das Paar war zu Besuch bei Freunden in Polen, als der Krieg ausbrach. Den 14-jährigen Sohn hatten sie zu Hause bei der Grossmutter in Sumy untergebracht, einer Grossstadt unweit der russischen Grenze, jetzt umzingelt von Putins Armee.
Slawa Bannikow sagt: «Uns ist schlecht vor Sorge. Wir telefonieren im Stundentakt mit ihnen, um ihre Stimmen zu hören. Damit wir wissen, dass sie noch am Leben sind.» Die Bannikows stehen vor dem Nichts. Wie es weitergeht, ist unklar. Erst mal hierbleiben. Morgen will Oksana Mathieu ihren Bruder und seine Frau auf die Gemeinde begleiten.
Was sie dort erwartet, hat der Bundesrat am Freitag entschieden. Menschen, die wegen des Krieges aus der Ukraine geflüchtet sind, erhalten in der Schweiz den Schutzstatus S. Konkret bedeutet das: Die Geflüchteten können ohne Asylverfahren vorerst ein Jahr in der Schweiz bleiben, arbeiten und zur Schule gehen. Registrierung und Sicherheitsprüfung dauern bis zu drei Tage.
Dass der Bundesrat diesen Schutzstatus aktiviert, deutet darauf hin, wie dramatisch die Lage ist. Der Status wurde als Reaktion auf die Massenflucht während des Jugoslawienkriegs geschaffen, um eine Überlastung bei den ordentlichen Asylverfahren zu vermeiden. Zur Anwendung kam er bisher noch nie.
Schutzsuchende Frauen aus der Ukraine könnten in die Fänge von Kriminellen gelangen, die sie etwa in Bordellen im Westen zur Prostitution zwingen. Mehrere Hilfsorganisationen berichten von Menschenhandel. Die polnische Menschenrechtsorganisation Homo Faber weiss von Fällen, in denen Kinder an Bahnhöfen verschwunden seien. Vor Menschenhandel warnt nun auch die Schweizer Bundespolizei. Europol, die EU-Polizeibehörde, kontaktierte das Fedpol diese Woche, wie ein Sprecher zu SonntagsBlick sagt. Die Bundespolizei hat die Warnung an die Kantonspolizeien, ans Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit sowie ans Staatssekretariat für Migration weitergeleitet. Es gehe darum, die Einsatzkräfte zu sensibilisieren. Erste Fälle sind der Behörde noch nicht bekannt. Alexander Ott, Chef der Berner Fremdenpolizei, hält es für möglich, dass Geflüchtete auch an Schweizer Bahnhöfen angesprochen werden und «man ihnen Arbeitsmöglichkeiten anbietet, die nicht seriös sind».
Schutzsuchende Frauen aus der Ukraine könnten in die Fänge von Kriminellen gelangen, die sie etwa in Bordellen im Westen zur Prostitution zwingen. Mehrere Hilfsorganisationen berichten von Menschenhandel. Die polnische Menschenrechtsorganisation Homo Faber weiss von Fällen, in denen Kinder an Bahnhöfen verschwunden seien. Vor Menschenhandel warnt nun auch die Schweizer Bundespolizei. Europol, die EU-Polizeibehörde, kontaktierte das Fedpol diese Woche, wie ein Sprecher zu SonntagsBlick sagt. Die Bundespolizei hat die Warnung an die Kantonspolizeien, ans Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit sowie ans Staatssekretariat für Migration weitergeleitet. Es gehe darum, die Einsatzkräfte zu sensibilisieren. Erste Fälle sind der Behörde noch nicht bekannt. Alexander Ott, Chef der Berner Fremdenpolizei, hält es für möglich, dass Geflüchtete auch an Schweizer Bahnhöfen angesprochen werden und «man ihnen Arbeitsmöglichkeiten anbietet, die nicht seriös sind».
Ukrainische Flüchtlinge dürfen zur Schule
Bundesrätin Karin Keller-Sutter betonte am Freitag zudem: «Die Kinder sollen in die Schule können.» Darauf bereiten sich die Schulen derzeit vor, wie das Beispiel der Zürcher Seegemeinde Wädenswil zeigt. «Mitte Woche haben wir erfahren, dass eine geflüchtete Familie in unserer Gemeinde eingetroffen ist», sagt Urs Giger (53) von der Primarschule Wädenswil. Um den Kindern den Einstieg zu vereinfachen, wird nun eine Aufnahmeklasse eröffnet, in der – wann immer möglich – stufengerecht unterrichtet wird.
Zugleich könnten Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine an ein oder zwei Nachmittagen die bestehenden Klassen kennenlernen und beim Schwimmen, Turnen oder Zeichnen mitmachen, bevor sie später ganz integriert werden, sagt Giger.
Unterstützung erhalten auch geflohene Studierende. Manche Unis bieten die Möglichkeit eines Gaststudiums an oder behandeln Gesuche von ukrainischen Studierenden mit Vorrang. Auch mit psychologischer Begleitung, kostenlosen Sprachkursen oder Unterstützung in Form von Stipendien wird den Vertriebenen geholfen.
Niemand weiss, wie lange die Menschen aus der Ukraine in der Schweiz bleiben. Es ist ein Leben zwischen Stuhl und Bank. Oleksander (33), der gemeinsam mit seiner Frau Swetlana (36) und den drei Söhnen Miron (12), Makar (6) und Timofyi (4) hierher geflüchtet ist, sagt es so: «Wir sind in einem neuen Land, kennen die Sprache nicht. Für immer hier zu bleiben, solche Pläne hatten wir bisher nicht.»