Seit Beginn der Pandemie wurden in China 106’000 Corona-Fälle gemeldet. In der Schweiz waren es bisher 2,3 Millionen – obwohl sie 1,4 Milliarden weniger Einwohner hat. Dies hat die chinesische Regierung mit einer rigorosen Null-Covid-Strategie erreicht, die in einer Demokratie kaum möglich wäre.
Wochenlang werden Millionen-Metropolen abgeschottet, jeder Infizierte muss ins Spital, Massentests sind Alltag. Als im Oktober eine Frau das Disneyland in Shanghai besuchte und zu Hause positiv getestet wurde, wurden am nächsten Tag über 30’000 Besucher im Park festgehalten und einzeln getestet. Das Ziel: jeden einzelnen Corona-Fall zurückzuverfolgen und die Übertragungsketten zu unterbrechen. Mit dem Auftauchen von Omikron wurden die Massnahmen noch einmal verschärft. Um den Jahreswechsel herum mussten die 13 Millionen Einwohner der Stadt Xian drei Wochen in ihren Wohnungen und Häusern bleiben. Die chinesische Regierung hat sogar damit begonnen, an diversen Grenzen Stacheldrahtzäune und Mauern hinzustellen, um das Virus nicht ins Land zu lassen.
Immunität fehlt, Impfungen sind nicht wirksam
Auch wenn diverse Beobachter davon ausgehen, Corona werde auch als Vorwand genutzt, um die Bevölkerung noch stärker kontrollieren zu können, gibt es kaum Widerstand. Das hängt nicht nur mit den starken Repressionen zusammen, sondern auch mit der Tatsache, dass die chinesische Regierung kaum mehr eine Wahl hat. Denn eine Omikron-Welle könnte verheerend sein.
Weil bisher praktisch niemand mit Corona infiziert ist, fehlt den Chinesen eine natürliche Immunität. Zwar sind 87 Prozent der Bevölkerung laut dem Portal «Ourworldindata» doppelt geimpft, allerdings mit Totimpfstoffen, die in China entwickelt und produziert werden. Diesen wird in internationalen Studien aus Yale und Hongkong ein schlechtes Zeugnis ausgestellt, wenn es um den Schutz gegen Omikron geht. Nicht einmal der Booster davon soll demnach wirklich nützen. Ob die chinesischen Impfstoffe gegen schwere Verläufe schützen, ist noch unklar, es gibt Studien mit unterschiedlichen Ergebnissen dazu.
600'000 Fälle täglich ohne Zero-Covid-Strategie
Die mRNA-Impfungen erlaubt man derweil nicht im Land. Die Immunologin Akiko Iwasaki geht davon aus, dass die Chinesen so mindestens vier Impfungen brauchen, um geschützt zu sein.
Eine Universität in Peking hat ausgerechnet, dass China ohne Zero-Covid-Strategie mit 600’000 Fällen täglich rechnen muss. Da könnte das Gesundheitssystem auch kollabieren, obwohl Omikron milder ist als seine Vorgänger. Kommt dazu: Auf 100’000 Einwohner kommen laut «NZZ» in China lediglich 4,7 Intensivbetten. In der Schweiz sind es immerhin 11, in Deutschland sogar 29.
«Die Chinesen befürchten, wir bringen ihnen das Coronavirus»
Solche Rechenspiele will die chinesische Regierung nicht mitmachen. Sie ist nicht nur überzeugt, dass die Zero-Covid-Strategie der westlichen Strategie überlegen ist, wie sie immer wieder betont. Sie will die Olympischen Spiele auch nutzen, um das zu beweisen. Die Akteure der Spiele – Athleten, Betreuer, Helfer, Journalisten, sind vollkommen abgeschottet. «Es war von Beginn an klar, dass wir keinen Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung haben werden», sagt Blick-Sport-Reporterin Nicole Vandenbrouck, die seit dieser Woche in Peking ist. Sport-Reporter Mathias Germann, der auch vor Ort ist, fügt an: «Ich habe das Gefühl, dass die Chinesen befürchten, wir würden ihnen das Coronavirus bringen. Oder, mindestens genauso schlimm, ihre Winterspiele gefährden.»
Doch die Strategie hat auch viele Probleme. Nicht nur dürfte es für die Psyche kaum gesund sein, ständig in Unsicherheit vor dem nächsten Lockdown zu leben. Die wirtschaftlichen Folgen sind ebenfalls immens. Noch 2020 war China die einzige grosse Weltwirtschaft, die trotz Corona gewachsen ist. Nun aber korrigieren Analysten ihre Wachstumsraten für China nach unten. Es kommt zudem auch zu Problemen mit Transportketten. Mega-Häfen gehen in den Lockdown, Schiffe stehen wochenlang rum. LKW von Myanmar müssen an der Grenze stoppen, die Fracht wird desinfiziert und steht für 48 Stunden dort. Danach wird sie von Robotern und Kränen auf chinesische Transporter geladen. Die fahren damit über die Grenze, wo die Ware wieder desinfiziert und für 24 Stunden deponiert wird. Erst danach darf sie verteilt werden. Dass dies wirtschaftlich nicht optimal ist, steht ausser Frage.
Noch kann dies alles einigermassen abgefedert werden. Und falls 90 Prozent der Bevölkerung drei- oder viermal geimpft ist, bevor die Omikron-Welle über China schwappt, dürften auch die gesundheitlichen Katastrophen ausbleiben, sagt etwa Ivan Hung, der die Abteilung für Infektionskrankheiten an der Universität Hongkong leitet, in der «NZZ». Das Problem: Was macht China, wenn auf Omikron die nächste Variante folgt, die sich noch schneller ausbreitet? Und daraufhin die nächste? Darauf hat die Regierung bisher keine Antwort. Eine Exit-Strategie existiert nicht.