Shanghai verzweifelt im Lockdown
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Schreie in der Nacht:Shanghai verzweifelt im Lockdown

Schweizer berichtet von Knallhart-Lockdown in Shanghai
«Quartiere müssen um Essens-Rationen kämpfen»

Ende März ordnete die chinesische Regierung für die Grossstadt Shanghai einen Knallhart-Lockdown an. Doch wie lebt es sich jetzt in der Millionen-Metropole? Ein in Shanghai wohnhafter Schweizer erzählt.
Publiziert: 14.04.2022 um 20:32 Uhr
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Aktualisiert: 15.04.2022 um 08:09 Uhr
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Shanghai befindet sich derzeit in einem harten Lockdown. Und mittendrin Marco N. aus der Schweiz.
Foto: zvg
Fabrice Obrist

Menschen sind zu Hause eingesperrt, werden überwacht. Es kommt zu Plünderungen. Die Situation in Shanghai ist angespannt. Der Lockdown bringt die Menschen an ihre Grenzen. Und mittendrin: Marco N.* (42). Der 42-jährige Schweizer lebt seit zwei Jahren mit seiner Partnerin in der chinesischen Metropole und betreibt dort eine Beratungsfirma. «Abgesehen von ein paar Spezialbewilligungen darf niemand rausgehen. Ganz zu Beginn fühlte es sich an, wie eine Kriegssituation», sagt er zu Blick.

Etwa 3500 neue Corona-Infektionen gab es Ende März täglich in der 26-Millionen-Metropole Shanghai. Zum Vergleich: In der Schweiz, die nur ein Drittel so viele Einwohner hat, gab es Ende März im Schnitt etwa 15'000 neue Coronafälle pro Tag. Und trotzdem verhängte die chinesische Regierung in Shanghai einen Lockdown. Der Grund: Die Regierung verfolgt eine Null-Covid-Strategie.

Gerade was Lebensmittel angeht, gäbe es massive Problem. «Essen kann man praktisch keines mehr kaufen oder bestellen. Es sind nur Grossbestellungen bei ein paar wenigen Lieferanten möglich und auch hier gibt es keine Garantie, dass die Ware zu einer bestimmten Zeit angeliefert wird.» Etwas zu Essen zu bekommen, gleiche einer Jagd.

Ganzkörperschutzanzug um Essen zu holen

Inzwischen stellt der Staat immerhin Rationen zur Verfügung. Laut N. kam die erste Essensration aber gar nicht an, da sie schon vorher verdorben war. «Zum Glück hatten wir noch ein wenig eigenen Vorrat. Später bekamen wir dann als Ersatz Gemüse mit etwas Kartoffeln», so der Expat. Wenn man die Essensrationen am bewachten Eingang seines Wohnviertels abholen geht, müsse man einen Ganzkörperschutzanzug anziehen.

Oft ist von einer akuten Lebensmittelknappheit in ganz Shanghai die Rede. Davon hat Marco N. bislang allerdings nicht viel bemerkt. Er weiss aber: «Einige Gebiete werden besser beliefert als andere. Die Führungsleute der Quartiere müssen sich die Essensrationen für ihre Bürger erkämpfen.» Dass die Menge an Essen vom Reichtum der Bürger abhängt, glaubt N. nicht. «Die reicheren Gebiete erhalten nicht zwingend mehr Essen. Es gibt also keine Zwei-Klassengesellschaft.»

Aber auch hier gibt es wohl Ausnahmen. «Beziehungen auf der Führungs- und Verwaltungsebene wirken sich aber möglicherweise auf die Verteilung aus. Und Schwarze Schafe gibt es immer. Dies hat dann wohl auch Gewinner und Verlierer zur Folge.»

Militär nur für die Logistik in der Stadt

In Shanghai gibt es alle paar Tage PCR-Tests. «Wenn man positiv ist, kommt man entweder in eine provisorische Unterkunft mit aufgestellten Betten, zum Beispiel in einem Messezentrum, oder, wenn man Glück hat, kann man zu Hause bleiben», berichtet Marco N.

Einen Aufstand in der Mega-City, wie es oft berichtet wird, hat der ausgewanderte Schweizer in Shanghai noch nie erlebt. «Wir haben nach wie vor Strom, warmes Wasser, Essen und Internet. Es lebt sich also gut hier.» Das Militär sei nur zur Unterstützung der Logistik nach Shanghai geschickt geworden. Die Einwohner der Millionen-Metropole seien laut N. lediglich verunsichert. «Sie können nicht mehr einfach so ins Spital gehen oder Essen bestellen. Sie wissen aber auch nicht, auf wen sie wütend sein sollen.»

Besonders für ältere Menschen sei dies eine schwierige Situation. «Man hilft sich aber in den jeweiligen Wohnblocks gegenseitig aus. Zeichen der Solidarität sind immer wieder zusehen.» So würden die jüngeren Mitbewohner laut Marco N. die Essensrationen den Älteren an die Tür liefern. «Alle rücken in der Krise etwas näher zusammen und man lernt seine Nachbarn, die man bisher nur im Lift angetroffen hat, von einer neuen Seite kennen.»

«Das war schlimmer als im Knast»

Arbeiten kann Marco N. trotz des Lockdowns weiterhin. «Ich arbeite seit 2020 in Shanghai und kenne somit gar nichts anderes als die Pandemie. Meine Mitarbeiter und ich können gut im Homeoffice arbeiten», erklärt er. «Allerdings müssen wir derzeit leider alle Projekte mit physischen Kontakten streichen.»

In der Schweiz war Marco N. zuletzt über Neujahr. Zur Corona-Politik hierzulande sagt er: «In der Schweiz hat man zwar mehr Freiheiten, aber ein viel höheres Ansteckungsrisiko. So konnte ich, als ich über Neujahr in der Schweiz war, nicht einmal so ohne Weiteres meine Eltern besuchen, weil ich sie nicht anstecken wollte.» Als er zurück nach Shanghai reiste, musste der 42-Jährige in China in ein sogenanntes Quarantänehotel. «Das war schlimmer als im Knast», erinnert er sich. Denn dort hätte man wenigstens noch ein bisschen Hofgang.

Trotz allem ist Marco N. zufrieden mit dem Leben in Shanghai. «Die Lebensqualität in Shanghai ist super. Das chinesische Gesundheitssystem könnte eine Durchseuchung bei so vielen Menschen nicht stemmen», erklärt der Auswanderer. «Ich finde, jedes Land muss eine Lösung finden, die zur eigenen Kultur und Lebensweise passt. Die Lösung von China in Shanghai finde ich eine gute.»

Trotz Lockdown steigen Coronazahlen

Wieder in die Schweiz zurückzukehren, ist für Marco N. trotz des harten Lockdowns keine Option. «Ich denke langfristig, und in der Schweiz müsste ich mich wieder neu orientieren. Ausserdem habe ich in Shanghai nichts zu meckern. Und die Option, im extremsten Fall trotzdem in die Schweiz zurückzukehren, hat man ja als Schweizer zum Glück immer in der Tasche.»

Obwohl es in Shanghai derzeit wohl den härtesten Lockdown weltweit gibt, steigen die Corona-Infektionen. Am Mittwoch wurde ein Höchststand von 26'330 Ansteckungen für den vorherigen Tag gemeldet. Trotzdem gab es am Montag in Shanghai bereits erste Lockerungen in Gebieten, wo es wenige Coronafälle gibt.

*Name geändert


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