In der Schweiz sind ab diesem Freitag die letzten Corona-Massnahmen Geschichte. So gibt es keine Maskenpflicht mehr im öffentlichen Verkehr. Ein grosser Schritt in Richtung Normalität. Auch andere Länder wie Deutschland, Grossbritannien oder Frankreich verzichten auf ihre Massnahmen.
Statt Infektionen zu verhindern, gilt nun die Strategie: mit dem Virus zu leben. Während wir uns in Europa über das Ende der Beschränkungen freuen können, stecken gerade Millionen Chinesen im Lockdown.
Das Land erlebt die schlimmste Corona-Welle seit Beginn der Pandemie vor zwei Jahren. Zwar sind die Zahlen im internationalen Vergleich niedrig. Die Regierung verfolgt eine Null-Covid-Strategie. Schnelle Lockdowns und rigorose Einschränkungen bremsten die Ansteckungszahlen.
Kleinere Ausbrüche konnten erfolgreich bekämpft werden
Während grosse Teile der Welt mit Infektionswellen und Spitalüberlastungen kämpften, erklärte Präsident Xi Jinping (68) den chinesischen Weg zum Erfolgsmodell. Zumindest die offiziellen Zahlen schienen ihm recht zu geben – grosse Virusausbrüche blieben aus.
Doch dann kam Omikron und brachte Chinas Corona-Konzept gewaltig in die Bredouille. Bisher hatten die Behörden kleinere Ausbrüche erfolgreich mit Ausgangssperren, Massentests und Quarantäne bekämpft. Doch mit der BA.2-Variante ist das kaum einzuhalten.
Omikron ist viel ansteckender als seine Vorgänger. Das Virus verbreitet sich bei einem Ausbruch innert kurzer Zeit. Infektionsketten sind damit viel schwieriger nachzuverfolgen. Die Null-Covid-Strategie scheint damit an ihre Grenzen zu kommen.
Dennoch hält das Land erstmal an der Strategie fest. Shanghai und die nordostchinesische Provinz Jilin sind gegenwärtig am schwersten betroffen. In der Hafenstadt wurden am Donnerstag 358 Neuinfektionen gemeldet, während weitere 4144 Fälle ohne Symptome gezählt wurden, wie am Freitag die Pekinger Gesundheitskommission bekannt gab.
Landesweit gab es 1787 neue Ansteckungen und 5442 asymptomatische Infektionen, die in China gesondert aufgeführt werden. Alle Infizierten kommen in ein Spital oder eine Quarantäne-Einrichtung. In Shanghai wurden für die Isolation Sportstadien und Messehallen mit Betten eingerichtet.
«Wir akzeptieren aufrichtig jedermanns Kritik»
Die Chinesen sind sauer. Besonders, weil der Knallhart-Lockdown in Shanghai, wo 25 Millionen Menschen leben, überraschend verhängt worden war. Dafür hat sich die Stadtverwaltung entschuldigt. Die Metropole sei «unzureichend» auf den jüngsten Corona-Ausbruch vorbereitet gewesen, erklärte der hohe Beamte Ma Chunlei. «Wir akzeptieren aufrichtig jedermanns Kritik und arbeiten hart daran, besser zu werden.»
Nachdem die Verantwortlichen einen Lockdown wegen der Auswirkungen auf die Wirtschaft und die internationale Schifffahrt lange ausgeschlossen hatten, wurde ein solcher am Sonntagabend doch verhängt. Bereits am Montag trat er für die Osthälfte der Metropole für fünf Tage in Kraft, ab Freitag sollen die Bewohner der westlichen Hälfte für fünf Tage ihre Häuser nur noch in äusserst dringenden Fällen verlassen dürfen.
«Auch ein Lockdown hat Grenzen»
Der überraschende und kurzfristige Schritt hatte zu Hamsterkäufen geführt, die wiederum die Preise steigen liessen. Chronisch Kranke kamen nicht mehr zu Behandlungen ins Spital, weil sie auf die Schnelle nicht die nötigen Ausnahmegenehmigungen zum Verlassen der Häuser besorgen konnten. Mindestens zwei Dialyse-Patienten und ein Asthma-Kranker starben deshalb laut Angaben ihrer Angehörigen in Online-Netzwerken.
Angesichts dieser Lage verstärkten sich die Zweifel an Chinas strikter Null-Covid-Strategie. Shanghai wird von Kritikern als weiteres Beispiel dafür gesehen, dass diese dauerhaft nicht funktioniert.
Schon letztes Jahr äusserte Italiens bekannteste Virologin Ilaria Capua (55) im Blick-Interview ihre Zweifel an der Null-Covid-Strategie. «Zero Covid funktioniert vielleicht auf klitzekleinen Inseln, aber nicht in einem Land, das mit anderen Ländern auf vielfache Weise verbunden ist. Auch ein Lockdown hat Grenzen», so Capua. Auch in China zweifeln einige Experten an der Strategie. Insbesondere, weil die strikten Massnahmen besonders für die Wirtschaft eine Belastung sind.
«Omikron ist so mild geworden»
Der führende chinesische Epidemiologe Zhang Wenhong (52) schrieb zudem in den sozialen Medien, China müsse seine rigide Strategie zwar vorerst beibehalten, dürfe aber nicht davor zurückschrecken, in Zukunft zu einer «nachhaltigeren Bewältigungsstrategie» überzugehen.
In einem ersten Schritt müsste man die Angst vor dem Virus nehmen. «Omikron ist so mild geworden, dass es in Ländern, in denen eine weit verbreitete Impfung und natürliche Infektionsraten erreicht wurden, weniger tödlich sein könnte als die Grippe.» Dass die Aussage des Wissenschaftlers mehrheitlich auf positive Resonanz stiess, zeigt, dass in China allmählich ein Umdenken stattfindet. Letztes Jahr war Zhang noch als Verräter beschimpft worden, als er gesagt hatte, dass das Land mittelfristig mit dem Virus «koexistieren» müsse.
Ein rascher Kurswechsel der Regierung ist dennoch nicht zu erwarten, die Anpassungen dürften eher in kleinen Schritten passieren. «Der Sieg kommt von der Beharrlichkeit», sagte Präsident Xi Jinping letzte Woche in einer Sitzung des Politbüros zur Corona-Politik. Der Staatschef dürfte beim grossen Parteitag Ende Jahr eine dritte Amtszeit anstreben – und bis dahin auf grundlegende Änderungen seine Politik möglichst verzichten. (jmh/AFP)