Auf einen Blick
- Damaskus feiert nach Sturz Assads. Bevölkerung hofft auf freies Syrien
- HTS bildet Übergangsregierung und kündigt Wahlen im März an
- 3000 Gefangene aus Foltergefängnis Saydnaya befreit, Zehntausende starben dort
In einer schmalen Gasse in Damaskus' Innenstadt steigt Rauch auf. Eine dicke Wolke hinter einer Kolonne von Autos – als wir uns nähern, erkennen wir ein Flackern. Wir fahren weiter Richtung Brandherd. Zwischen den Autos taucht ein Mann auf, der auf einem metergrossen Grill Fleisch brät. Er schwingt ein helles Tuch über den Kopf – von dem wir gedacht haben, es sei eine Flamme.
Syriens Hauptstadt ist wie verwandelt. Tausende Menschen sind an diesem Freitag auf den Strassen unterwegs, mit Flaggen und Musik. Sie feiern «das erste Wochenende der Freiheit», wie sie es selbst nennen.
Die Bevölkerung schöpft neue Hoffnung
Vor einer Woche haben die Rebellen die Stadt Hama eingenommen, rückten allmählich in Richtung Damaskus vor. Aus Angst kauften die Menschen die Supermärkte leer. Niemand glaubte daran, dass die Assad-Familie nach 40 Jahren Herrschaft gestürzt werden könnte. Bis die islamistische Hai’at Tahrir asch-Scham (HTS) die Hauptstadt am Sonntag einnahm.
«Wir haben keine Angst vor einem neuen Terror-Regime», sagt eine junge Frau am Steuer ihres Autos. Sie ist eine der wenigen, die kein Kopftuch trägt. «Wir glauben an ein freies Syrien für alle.»
Die kleinen Läden in der Innenstadt verkaufen Früchte und Süssigkeiten. Restaurants servieren Essen. Syrerinnen und Syrer können aus der Türkei, dem Libanon und Jordanien einreisen. Die Checkpoints an der Stadtgrenze zu Damaskus – verlassen. Neben der Strasse stehen ausgebrannte Panzer. «Assad», sagt ein Fahrer zu Blick und fährt direkt mit seinem Finger seinen Hals entlang – eine Geste, die «tot» bedeuten soll. Er meint damit den Tod des Regimes, denn der ehemalige Präsident Bashir Al-Assad lebt. Er hat in Russland Asyl bekommen.
Syrer warten auf Neuwahlen
Seine Soldaten haben ihre Uniformen abgelegt, sich unters Volk gemischt. Auf den Strassen von Damaskus patrouillieren keine Polizisten, keine Milizen. Ein junger Mann mit Kalaschnikow hat sich den Feiernden angeschlossen, hält mit einer Hand die Waffe in die Luft, mit der anderen formt er ein Peace-Zeichen.
Die HTS hat in den vergangenen Tagen eine Übergangsregierung gebildet und angekündigt, im März Wahlen abzuhalten. In Gebieten wie Idlib ist die HTS schon seit Jahren an der Macht. Doch in den Städten weiter südlich kennen sie viele nicht. Entsprechend schwierig ist es für die Bevölkerung, abzuschätzen, was in den kommenden Wochen passieren wird.
Es sind Gedanken, die sich an diesem Feiertag wohl nur wenige machen. Sie sind noch berauscht vom überraschenden Ende der brutalen Diktatur. Entfesselte Euphorie nach jahrzehntelanger Depression.
Tausende Gefangene aus Foltergefängnis befreit
Auf dem Umayyad-Platz in Damaskus feiert auch Hasran Almasry (23). Die letzten eineinhalb Jahre hat er im berüchtigten Folter-Gefängnis Saydnaya verbracht. Letzte Woche wurde er befreit. Über seine Erlebnisse kann er noch nicht sprechen. «Mir ging es sehr schlecht», sagt er, «aber jetzt fängt ein neues Leben an und ich habe wieder Hoffnung auf Glück.»
Almasry ist einer von etwa 3000 Gefangenen, die Saydnaya überlebt haben. Zehntausende sind dort während des Bürgerkriegs gestorben. Nun ist das Gefängnis unbewacht. Und die leeren Zellen lassen erahnen, durch welche Hölle die Menschen hier gehen mussten. In manchen gibt es nicht einmal ein Loch, das die Insassen als Toilette hätten benutzen können. Auf engstem Raum kauerten teils Hunderte Menschen in der Dunkelheit – oder standen, weil schlicht nicht genug Platz war, damit alle hätten sitzen können.
Erste Flüchtlinge kehren zurück
Nachdem Assad gestürzt wurde, kehrten viele Flüchtlinge innerhalb Syriens in ihre Städte zurück. Sie fanden ihre Häuser zerbombt oder geplündert vor. Bewohnbare Zustände in den syrischen Städten – ein weit entfernter Traum. Die Menschen streben nach einem normalen Leben. Die Übergangsregierung hat veranlasst, dass Schulen und Universitäten ab Sonntag wieder geöffnet sind. Doch ohne internationale Hilfe, da sind sich viele hier einig, wird es ihnen nicht gelingen, ein neues Syrien aufzubauen.
«Ich wollte immer nach Europa flüchten», sagt ein Jugendlicher (17) mit rot-weissem Schal während der Feier auf dem Umayyad-Platz. «Aber jetzt will ich bleiben und mich für unsere Zukunft in Syrien einsetzen.»