Auf einen Blick
In Syrien herrscht Erleichterung: Vor einer Woche stürzte die islamistische Rebellengruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) den syrischen Diktator Baschar al-Assad (59) und übernahm die Macht. Nun ist die Hoffnung gross, dass sich in Syrien alles zum Besseren wenden wird. Das Ziel ist eine tolerante, liberale und demokratische Regierung – und das ausgerechnet mit Islamisten an der Macht. So verkauft es zumindest die HTS. Doch Assad ist nicht der erste Diktator, der im arabischen Raum gestürzt wurde. 2011 kam Muammar al-Gaddafi im Zuge eines Militärputsches zu Fall, 2003 stürzten die USA den irakischen Machthaber Saddam Hussein. Und die Geschichte zeigt: Auf die Hoffnung folgt oft die grosse Enttäuschung. Droht Syrien dasselbe Schicksal wie dem Irak und Libyen?
Diktatorsturz bringt nicht immer Erleichterung
Seit dem Sturz Muammar al-Gaddafis 2011 kämpfen in Libyen zahlreiche bewaffnete Gruppen um Macht und Ressourcen, wobei jederzeit neue Konflikte ausbrechen könnten. Ähnlich führte der Sturz Saddam Husseins 2003 im Irak zu gesellschaftlicher Spaltung und politischen Rivalitäten, insbesondere zwischen Schiiten und Sunniten. Reformen stagnieren, und die Zukunft des Landes bleibt ungewiss. Die ernüchternde Erkenntnis der bisherigen Geschichte: Wenn Diktatoren fallen, wird das Leben für die Bevölkerung selten besser.
Muss sich also auch Syrien auf ein solches Szenario vorbereiten? Ali Sonay, Experte für den Mittleren Osten an der Uni Bern, erklärt im Gespräch mit Blick: «Was wir aktuell in Syrien sehen, ist anders. Es sieht ganz so aus, als seien gewisse Lehren aus den Situationen im Irak und in Libyen gezogen worden.» So fand der effektive Machtwechsel laut Sonay geordneter statt als in den genannten Beispielen: Assads Premierminister übergab die Regierung offiziell an die HTS.
Das steht in deutlichem Kontrast zum Machtwechsel im Irak: Damals wurden dort alle, die zum alten Regime gehörten, wortwörtlich rausgeschmissen. Experte Sonay merkt an: «In Syrien wird aktuell versucht, Elemente des vorherigen Regimes einzubinden.» Durch diesen Prozess soll Konflikten zwischen den Anhängern und Anhängerinnen der ehemaligen und der neuen Regierung vorgebeugt werden.
Wird die HTS tolerant und liberal regieren?
Sonay spricht auch das Versprechen der HTS an, inklusiver und toleranter zu sein als die Assad-Regierung. Syrien ist geprägt von einer Vielzahl Religionen und Ethnien – viele Minderheiten wurden unter der Herrschaft Assads unterdrückt, darunter auch die kurdische Bevölkerung im Norden des Landes. Damit soll nun Schluss sein. «Das ist ein Thema, das, wie ich denke, noch sehr wichtig sein wird und worauf die neuen Machthaber in Syrien achten müssten, damit dieser Prozess so inklusiv wie möglich gestaltet werden kann.» Bisher scheint es aber gut zu funktionieren: Auf Social Media tauchten in den letzten Tagen Videos von Christen auf, die ihren Glauben auf offener Strasse ausleben, und von jungen Frauen, die ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit zu sehen sind.
Aber wird das auch so bleiben? Wird die islamistische HTS halten, was sie verspricht – oder ist sie nur ein Wolf im Schafspelz? Denn auch hier zeigt die Geschichte ein anderes Bild: Als vor drei Jahren die Taliban in Afghanistan die Macht übernahmen, versprachen auch sie Liberalisierung in Form von Frauenrechten und Pressefreiheit. Drei Jahre nach ihrer Machtübernahme ist klar: Daraus ist nichts geworden – im Gegenteil, die Bevölkerung in Afghanistan leidet unter der repressiven Taliban-Herrschaft.
Nahost-Experte Sonay meint dazu vorsichtig: «Es gibt in der Tat die Möglichkeit, dass sich Syrien zu einer Demokratie entwickelt.» Bis Anfang März 2025 soll Mohammed al-Bashir von der HTS interimistisch als Premierminister Syriens regieren. Was danach kommt, ist offen. «Es wird sich nun zeigen müssen, wie diese Übergangsregierung regiert und was der Plan für die Zeit danach ist. Ob Syrien dasselbe Schicksal wie Libyen oder Irak ereilen wird, kann im Moment nicht vorausgesagt werden – die Startbedingungen sind jedoch anders.»