Auf einen Blick
24 Jahre lang herrschte Diktator Bashar al-Assad (59) über Syrien. Zusammen mit der Regentschaft seines Vaters Hafiz (1930–2000) sind das 54 Jahre brutale Assad-Dynastie, die 2011 einen Bürgerkrieg auslöste.
Jetzt ist Assad weg. In nur zwölf Tagen haben es Rebellen unter der Führung der Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) geschafft, was vorher Assads Gegner über Jahre erfolglos versucht hatten: den verhassten Herrscher zu vertreiben. Wie erfolgreich wird die neue Regierung sein? Mit welchen IS-Anschlägen muss man rechnen? Nahost-Experte Reinhard Schulze (71) beantwortet die wichtigsten Fragen.
Herr Schulze, die neuen Machthaber haben versprochen, gegenüber anderen tolerant zu sein. Kann man ihnen vertrauen? Immerhin sollen HTS-Angehörige laut Berichten Assad-Anhänger im Spitalbett erschossen haben.
Wenn das neue Regime überleben will, muss es eine Form inklusiver Politik schaffen, die der Realität der vielfältigen syrischen Gesellschaft entspricht. Gelingt dies nicht, droht der Rückfall in eine ethnonationalistische Diktatur. Dies halte ich angesichts der Erfahrungen der syrischen Bevölkerung, die über 60 Jahre eine solche Diktatur ertragen musste, für unwahrscheinlich.
Die Amerikaner bleiben in Syrien, um ein Wiederaufflammen des IS zu verhindern. Wie stark ist diese Islamisten-Gruppierung noch?
Im Februar 2019 schätzte der UN-Sicherheitsrat die Stärke des IS in der Levante (Ostküste des Mittelmeeres) auf etwa 5000 bis 10’000 Mann, inklusive Truppen und Familienangehörigen. Er übt in der Steppe noch die Kontrolle über ein Einzugsgebiet von zwei bis drei Prozent der Fläche Syriens aus. Sein politisches Zentrum dürfte der IS längst nach Afghanistan und Zentralasien verlagert haben. Er wird in Syrien wohl nur noch ein indirekter Faktor sein.
Welche Gefahr könnte vom IS ausgehen?
Er wird versuchen, den Prozess der Staats- und Gesellschaftsbildung durch gezielte Anschläge zu stören. Ein typischer IS-Angriff wäre zum Beispiel ein Anschlag auf eines der schiitischen Heiligtümer in Syrien.
Warum ist es den Rebellen gelungen, Assad innerhalb so kurzer Zeit zu stürzen?
Die Offensive war extrem gut vorbereitet. Die Planungen reichten bis ins Jahr 2019 zurück. In dieser Zeit wurden Ausbildung, Waffenlager und Kommandostruktur vereinheitlicht und verbessert. Es gab nun ein Generalkommando unter gleichrangigen militärischen Führern. Im Zuge der Offensive wurden immer mehr Ortschaften eingenommen, und zwar von lokalen Akteuren in Koordination mit den Rebellen. Je mehr die Kämpfe abflauten, desto stärker wurde der Mobilisierungseffekt.
Warum schützte Assads Armee den Herrscher nicht?
Weil die Armee und die mit ihr verbündeten Milizen katastrophal versorgt wurden und kaum noch einheitlich organisiert auftraten. Schliesslich hatte das Scheitern der russisch-syrischen Offensive gegen Idlib im Sommer 2020 gezeigt, dass die russischen Truppen nicht unbedingt überlegen waren.
Hat Putin Assad fallenlassen?
Es hat sich schon angedeutet, dass der Kreml immer auch für die Zeit nach Assad geplant hat – schliesslich will Russland seine Militärbasen, vor allem die in Hmeimim, behalten. Aber ich würde nicht von einer Aufgabe sprechen, sondern eher von einem Scheitern der Strategie. Russland hat es nie geschafft, sein militärisches Protektorat über Syrien in Politik umzusetzen. So konnte sich unter dem Schutz Russlands ein Netzwerk von Oligarchien bilden, die eben auch mit dem Drogenhandel verbunden waren. Deren Interessen dominierten und durchkreuzten nicht selten die russischen Pläne vor Ort.
Wie kamen die Rebellen zu den vielen Waffen?
Die HTS und verbündete Milizen sowie die Freie Syrische Armee konnten in der Anfangsphase der Offensive gezielt Waffenlager regimetreuer Truppen erobern und so ihre Ausrüstung verbessern. Standardisierte Ausrüstung wurde vermutlich auch durch offizielle und/oder inoffizielle türkische Stellen ermöglicht. Viel Material wurde auf Kredit beschafft, manches über Umwege geliefert. Das zeigt, dass die Rebellenmilizen über ein gut funktionierendes Netzwerk verfügen.