Grosse Fortschritte in der ukrainischen Gegenoffensive schienen zuletzt auszubleiben. Kurz vor dem erwarteten Wintereinbruch wirken die Fronten verhärtet, Erfolgsmeldungen auf beiden Seiten sind Mangelware.
Doch wie steht es um die Ukraine-Offensive wirklich? Blick beantwortet die wichtigsten Fragen.
Ist die ukrainische Gegenoffensive am Ende?
Der von Russland eingesetzte Verwalter der Region Saporischschja, Jewgeni Balizki (53), hat unlängst von einem vollständigen Stopp der ukrainischen Gegenoffensive gesprochen. Auch aus der Ukraine selbst kommen zunehmend pessimistische Einschätzungen, etwa durch den Oberkommandierenden der Armee, Waleri Saluschni (50). Für Marcel Berni (35), Strategieexperte der Militärakademie der ETH Zürich, ist klar: «Militärisch hat die ukrainische Gegenoffensive ihr Hauptziel nicht erreicht. In Kiew erhoffte man sich einen schnellen Durchbruch durch die russischen Linien, idealerweise einen mechanisierten Vorstoss bis zum Asowschen oder Schwarzen Meer und damit eine Spaltung der russischen Front.» Berni spricht zwar nicht von einem Ende der Gegenoffensive. Doch gemessen an den Geländegewinnen habe die ukrainische Gegenoffensive die hohen Erwartungen bisher nicht erfüllen können.
Wie steht es um die Personalsituation bei der ukrainischen Armee?
Die genauen Opferzahlen im Ukraine-Krieg sind nicht bekannt. Die ukrainische Armee hat aber offensichtlich Mühe, ausreichend Soldaten für die Verteidigung gegen Russland zu rekrutieren. Das zeigt unter anderem die Ankündigung durch den ukrainischen Verteidigungsminister, Rusten Umjerow (41), den Militärdienst reformieren zu wollen, um den Personalbedarf der Streitkräfte zu decken. Unter anderem sollen neu auch Frauen rekrutiert werden. «Wir wissen sehr wenig über die Opferzahlen in der Ukraine», sagt Berni zu Blick. «Generell ist der Blutzoll auf beiden Seiten sehr hoch – der Krieg gegen die Ukraine ist ein extrem blutiger Krieg.» Die Frage der Rekrutierungsfähigkeit und des Wehrwillens betreffe jedoch beide Kriegsparteien.
Bekommt die Ukraine genügend Waffen für einen Sieg?
Bei der Rüstungsbeschaffung ist die Ukraine abhängig von den westlichen Verbündeten. Diese schnüren immer neue Hilfspakete mit Waffenlieferungen. Ob der Westen weiterhin imstande ist, den nötigen Umfang an Kriegsgerät und Munition zu liefern, um der Armee von Russlands Präsident Wladimir Putin (71) Paroli bieten zu können, ist unklar. «Das ist die grosse Frage: Putin hofft auf Kriegsmüdigkeit und Defätismus im Westen», sagt Berni. «Denn es zeichnet sich ab, dass die Ukraine noch lange Zeit auf Nachschub aus dem Westen angewiesen sein wird. Die ukrainische Verteidigungsfähigkeit steht und fällt damit. Russland weiss das.»
Glaubt die ukrainische Führung überhaupt selber noch an einen Sieg?
In der ukrainischen Führung scheint es zunehmend unterschiedliche Ansichten über die eigenen Erfolgschancen im Krieg gegen Russland zu geben. Präsident Selenski glaubt angeblich weiterhin an einen Sieg, während der Oberkommandierende der Streitkräfte, Saluschni, von einer Pattsituation spricht. «Selenski als Politiker muss weiter Optimismus verbreiten, Saluschni als General weist auf den Unterschied zwischen militärischen Zielen und Mitteln hin», erklärt Berni. «Nüchtern betrachtet hat Saluschni recht. Militärisch ist derzeit eher ein Patt zu beobachten. Obwohl die Ukraine im Sommer an drei Frontabschnitten angegriffen hat, konnte Russland genügend Reserven bilden, um selbst eine lokale Offensive bei Awdijiwka vorzubereiten.»
Was bedeutet der bevorstehende Winter für den weiteren Verlauf des Krieges?
Kälte, Wind und Wetter setzen den Soldaten im Ukraine-Krieg derzeit zunehmend zu. Die Rasputiza, die Schlammzeit, schränkt die Manövrierfähigkeit der Truppen vielerorts ein. Im Süden, wo die Ukraine seit Monaten darum bemüht ist, die russische Front zu teilen, ist die Situation weniger prekär. Berni: «Die bevorstehenden Regenfälle erschweren mechanisierte Operationen mit schwerem Gerät – genau das, was die Ukraine jetzt bräuchte, um einen Durchbruch zu erzielen.» Der Strategieexperte geht davon aus, dass die Intensität der Kämpfe wie schon im vergangenen Winter abnehmen wird. «Aber im Süden ist es trockener und wärmer, deshalb kann dort besser und länger gekämpft werden.»
Kommen die F-16 zu spät?
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (45) hat unlängst wieder auf die Notwendigkeit hingewiesen, Kampfflugzeuge aus westlicher Produktion zu erhalten. Die vom Westen versprochenen F-16-Jets werden aber erst im nächsten Jahr geliefert. «Aus militärischer Sicht wäre die Lieferung von Kampfflugzeugen vor der Gegenoffensive notwendig gewesen», sagt Berni. «Der Mangel an ukrainischer Luftkontrolle ist einer der Gründe, warum die Offensive ins Stocken geraten ist. Aber auch wenn die Ukraine bald über eine begrenzte Zahl von F-16 verfügt, wird dies den Krieg nicht über Nacht entscheiden. Denn sie schaffen neue Abhängigkeiten und sind wartungsintensiv.»
Wie sieht die bisherige Bilanz der Gegenoffensive aus?
Die ukrainische Gegenoffensive läuft nun seit fünf Monaten. «Wie bereits erwähnt, hat die ukrainische Gegenoffensive die hochgesteckten Ziele nicht erreicht», sagt Berni. «Gleichzeitig gelingt es der Ukraine immer wieder, mit präzisen Schlägen den russischen Nachschub, die Logistik und die Kommandoposten im besetzten Gebiet anzugreifen. Betrachtet man diese Angriffe ebenfalls als Teil der Gegenoffensive, fällt die Bilanz etwas besser aus.» Immerhin sei es der Ukraine gelungen, die russische Schwarzmeerflotte zum Rückzug aus Sewastopol zu zwingen. «Während die russischen Streitkräfte im Winter im Angriff schlecht waren, zeigt sich nun, dass sie sehr wohl verteidigen können.» Offenbar habe die Ukraine, wie auch viele westliche Experten, das russische Verteidigungsdispositiv unterschätzt. Gleichzeitig sei die Durchschlagskraft westlicher Waffen und deren Einsatz durch die ukrainischen Streitkräfte überschätzt worden.