Nach langen, schweren Kämpfen konnte die ukrainische Armee Ende September die ersten Erfolge an der Front verbuchen. Mit einigen Durchbrüchen im Osten und Süden des Landes machten die Truppen von Präsident Wolodimir Selenski (45) Hoffnung auf rasche Fortschritte.
Doch diese wurden rasch gedämpft. Seit Wochen fehlen die grossen Erfolgsmeldungen. Kurz vor dem erwarteten Wintereinbruch sind die Fronten verhärtet. Fortschritte gibt es nur noch wenige.
In einem Interview mit dem «Economist» zieht auch Waleri Saluschni (50), Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, eine bittere Bilanz. «Es wird wahrscheinlich keinen tiefen und schönen Durchbruch geben», so Saluschni. Er selbst habe angenommen, dass man die russischen Truppen «ausbluten lassen kann». Mittlerweile habe Russland «über 150'000 Tote zu beklagen», so der ukrainische Armeechef. «In jedem anderen Land wäre damit der Krieg vorbei. Aber nicht in Russland. Bei dieser Einschätzung habe ich mich getäuscht.»
Russland ist Ukraine überlegen
Er selbst habe die langsamen Fortschritte zuerst nicht richtig analysiert, gibt Saluschni ehrlich zu. «Zuerst dachte ich, dass mit unseren Kommandanten etwas nicht stimmt, also habe ich einige von ihnen ausgetauscht. Dann dachte ich, dass unsere Soldaten vielleicht nicht für ihren Zweck geeignet sind, also habe ich Soldaten in einigen Brigaden versetzt», so der Armee-Boss. Doch all das habe nichts genützt. Erst spät habe er realisiert, dass man sich derzeit in einer Patt-Situation befinde.
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Zahlenmässig, militärisch und wirtschaftlich sei Russland der Ukraine weit überlegen. Das würden auch seine Truppen merken, sagt Saluschni. Dennoch gebe es Möglichkeiten, die russische Armee zu schlagen. So brauche es neue Entwicklungen bei Drohnen oder der elektronischen Kriegsführung, um die russische Seite auszutricksen.
«Irgendwann nicht mehr genügend Personal»
«Es ist wichtig, zu verstehen, dass wir mit der aktuellen Kriegstaktik und der aktuellen Ausrüstung nicht weiterkommen werden», so der Armee-Chef. «Sie führt zu Verzögerungen und infolgedessen zu einer Niederlage.» Neue Entwicklungen seien zwingend, um Russland besiegen zu können.
Sollten sich diese Entwicklungen verzögern, nütze dies nur Russland, so Saluschni. Denn dann würde sich der Krieg noch lange hinziehen. «Das grösste Risiko eines zermürbenden Grabenkriegs ist, dass er sich über Jahre hinziehen und den ukrainischen Staat zermürben kann», erklärte der Armee-Chef. Denn die Gefahr, so der ukrainische Armee-Chef, bestehe auch in der beschränkten Anzahl der Soldaten. «Wir müssen vorwärtskommen. Denn irgendwann, früher oder später, werden wir sonst nicht mehr genügend Leute haben, um Russland standzuhalten.» (zis)