Der Krieg dauert nun schon seit fast zwei Jahren an. Russland kontrolliert immer noch ein Fünftel des ukrainischen Territoriums. Zehntausende sind auf beiden Seiten getötet worden. In der Nacht auf Donnerstag erlebte die Ukraine den schlimmsten russischen Raketenangriff seit Jahresanfang. Die weltweite Unterstützung für den Krieg schwindet. Symptomatisch dafür: Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni (46) sagte einem Scherzanrufer, der sich als afrikanischer Staatschef ausgab, dass viele Menschen wegen des Krieges in der Ukraine «sehr müde» seien. Auch die Unterstützung aus der Slowakei nimmt ab.
Kurz: Es sieht nicht gut aus für die Ukraine. Das spürt auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (45). Und nun erhält der Präsident auch von überraschender Seite Gegenwind.
«Das Erschreckendste ist, dass sich die Welt an den Krieg in der Ukraine gewöhnt hat», sagt er zum amerikanischen Magazin «Time», das ihn seit einigen Monaten begleitet. Das Interview erschien diese Woche – und geht nun um die Welt. «Die Erschöpfung über den Krieg rollt wie eine Welle an.» Aufgeben will er nicht, kann er nicht. «Niemand glaubt so sehr an unseren Sieg wie ich. Niemand.»
Selenski glaubt so sehr an den Sieg der Ukraine, dass keine andere Meinung geduldet wird, wie aus dem Bericht von «Time» hervorgeht. «Er macht sich etwas vor», sagt einer seiner engsten Berater frustriert. «Wir haben keine Optionen mehr. Wir werden nicht gewinnen. Aber versuchen Sie mal, ihm das zu sagen.» Selenskis Sturheit sabotiert die Bemühungen seiner eigenen Leute, einen Weg aus diesem Krieg zu finden, so der Berater zum Magazin.
Für Selenski gibt es nur eine Lösung: Kämpfen, kämpfen, kämpfen
Denn für den ukrainischen Präsidenten gibt es nur einen Weg: Kämpfen bis zum bitteren Ende. Doch das könnte schon bald nicht mehr möglich sein. Die Ukraine braucht Waffen, Munition, Geld – und der Westen kommt kaum nach mit Lieferungen. Ein weiterer von Selenskis engen Mitarbeitern sagt zum Magazin, dass, selbst wenn die USA und ihre Verbündeten alle zugesagten Waffen liefern, «wir nicht die Männer haben, um sie einzusetzen». Das Wehrpflichtalter wurde bereits auf 43 Jahre angehoben.
Die Unzufriedenheit in der Ukraine wächst
Dass wichtige Berater Selenskis so offen negativ über ihn und seine Pläne sprechen, zeigt: In der Ukraine macht sich Hoffnungslosigkeit breit. Nicht nur in seinen engsten Kreisen, sondern auch in der ukrainischen Bevölkerung wachsen die Zweifel – an einem Sieg, aber auch an ihrem Präsidenten. Laut der nichtstaatlichen Forschungsorganisation Rating liegt die Gesamtunterstützung für Selenski bei 82 Prozent, bei der letzten Befragung lag sie noch bei 91 Prozent. Auch wenn dieser Wert immer noch sehr hoch ist, zeigt der Verlust von neun Prozent Zustimmung die Verunsicherung im Volk.
Diese Verunsicherung könnte noch wachsen, wie Analysten des Magazins «Foreign Affairs» schreiben. 2024 wird ein neues Parlament und ein neuer Präsident gewählt. Und Selenski bekommt Konkurrenz – von seinem ehemaligen Berater Oleksij Arestowytsch (48). «Der Moment für meine Kandidatur ist gekommen», schreibt der Ex-Berater am Mittwoch auf Facebook. Der Ex-Berater fiel bereits mehrmals in diesem Krieg mit fragwürdigen Aussagen auf. Mit seiner Kandidatur bricht er aber alle Tabus.
Mehr über die Ukraine
Denn: Er verspricht vieles, was in der kriegsmüden Bevölkerung gut ankommen könnte: eine neue Strategie an der Front, weniger Mobilisierung und eine bessere Rotation des militärischen Personals. Und: Wenn er Präsident werden würde, erklärt er, würde er mit Russland verhandeln. «Wir fordern die Nato-Mitgliedschaft mit der Verpflichtung, die zum Zeitpunkt des Beitritts besetzten Gebiete nicht militärisch zurückzuerobern, sondern ihre Rückkehr nur mit politischen Mitteln anzustreben.» Ein Tabubruch, wie er vor wenigen Monaten nie denkbar gewesen wäre.
Selenski hat sich noch nicht zu den Vorschlägen seines ehemaligen Vertrauten geäussert. Doch für ihn lesen sie sich wohl wie Vaterlandsverrat. Denn eine Verhandlungslösung kommt für den ukrainischen Präsidenten nicht infrage. Denn er lehnt selbst einen vorübergehenden Waffenstillstand strikt ab. Gegenüber dem Magazin «Time» sagte er: «Vielleicht beruhigt das einige Leute in unserem Land und ausserhalb, zumindest diejenigen, die die Dinge um jeden Preis abschliessen wollen.» Doch Selenski will sein Land zum Sieg führen – koste es, was es wolle.